Auf den Dächern der Stadt
Jeder hat das Recht, Vilnius zu besuchen, den Fluss Vilnelė um sich fließen zu lassen und Engel zu sehen.
Auf wackligen Steinen balancierend überqueren wir die ruhig dahinplätschernde Vilnelė unterm Sternenhimmel über Vilnius.
In den Baumkronen um uns herum hängen rote, blaue, grüne, bunte Tücher mit tibetanischen Gebetssymbolen, die der Welt gute Botschaften überbringen, wenn sie wie jetzt vom leichten Wind geweckt in Richtung Stadtzentrum flattern. Wir umkreisen skurrile Statuen im Gras, ein Haus voller Farbe, das am Rande des Flussufers Ahnungen von langen Sommernächten mit Träumereien aufkommen lässt.
Es ist still hier, weit entfernt sind Geräusche der befahrenen Straßen zu vernehmen, der Atem eines Rauchers in unserer Nähe, sonst nichts als das fließende Wasser. Die Treppen am Ufer führen uns zu einem alten Sessel direkt am Wall, gerade so wie für uns hergerichtet, und während wir uns wie junge Könige auf unserem imaginären Thron niederlassen, Wind an den Ohren, Novemberkälte und aufgestellte Armhärchen, gezupfte Gitarrensaiten hinter uns, prangt irgendwo dort an der hölzernen Brücke ein Name auf einem Schild in schwarzen Lettern gedruckt, "Užupis".
Jeder Mensch hat das Recht, beim Fluss Vilnia zu leben, und der Fluss Vilnia hat das Recht, an jedem vorbei zu fließen.
Jeder Mensch hat das Recht zu lieben.
Jeder Mensch hat das Recht, nicht geliebt zu werden, aber nicht notwendigerweise.
Ein Hund hat das Recht, ein Hund zu sein.
Eine Katze ist nicht verpflichtet, ihren Besitzer zu lieben, aber muss in Notzeiten helfen.
Jeder Mensch hat das Recht zu weinen.
Jeder Mensch hat das Recht, missverstanden zu werden.
Jeder Mensch hat das Recht, keine Angst zu haben.
Das ist Užupis, die selbsternannte Republik im Herzen von Vilnius, die sich, wie es schon dem Namen zu entnehmen ist (už = hinter, upė = Fluss), am Ufer der Vilnelė entlangzieht.
Wie im Zeitraffer vorgespult erscheint mir unsere Reise durch die unbefestigten Hinterhofgassen, schiefe Holzfassaden türmen sich um uns auf, und flimmerndes Laternenlicht, aufgesprayte Sternengesichter und der Halbmond, der uns durch die wie Gespenster wehende aufgespannte Wäsche entgegen leuchtet, sind die einzigen Lichter, die uns begleiten.
Man fühlt sich magisch hier, das ist es, was Užupis mit einem macht.
"Die Brücken von Užupis, in Eisen gefangen, glauben an Märchen" -Edita Tomašauskaitė
In den zwei Monaten, die ich bereits in Litauen verbracht habe, bin ich täglichen vielen Litauern begegnet, jung, alt, traurig, glücklich, planlos, zielstrebig, arm, verwirrt, gläubig, irgendwie vereint unter den Farben gelb, grün und rot. Doch nie hätte ich erwartet, hier in Litauen einer so ungewöhnlich ungleichen und gleichzeitig so eng und innig zusammenwohnenden Gruppe von lebendigen Menschen zu begegnen. Und damit meine ich wirklich lebendig, die Zeit nutzend, zusammen sein, Gedanken austauschen wie Klamotten.
"Lass dich nicht unterkriegen! Schlag nicht zurück! Gib nicht auf!", steht silbern groß an der Wand geheftet, daneben ein riesiger Handabdruck als Zeichen der Republik. Und auch wir geben nicht auf, obwohl unsere Füße uns schmerzen, nachdem wir seit Stunden auf einer Entdeckungsreise durch sämtliche Wälder und über sämtliche Hügel von Vilnius waren. Was für eine merkwürdige Stadt, in der neben stark befahrenen Straßen längst vergessene Häuser stehen, durch dessen löchrige Wände man sich wie Mäuse auf das Dach schleichen kann um von dort oben hunderte von Fensterlichtern flackern zu sehen. Garnicht weit entfernt davon liegt ein Park, in dem ein Mann verträumt einen Takt auf seiner Trommel wiederholt. Dort führen uralte Treppenstufen hinauf zum wohl höchsten Punkt der Stadt, einem Berg, auf dem drei weiße Kreuze Sonnenauf- und Untergang beobachten, das Symbol der Trauer um die ersten Christen, die nach Litauen kamen und von den dort lebenden Heiden getötet wurden.
Wirklich wahrhaft merkwürdig, diese Stadt, und wirklich wahrhaft bezaubernd.
Dies ist die erste Hauptstadt die ich kenne, in der man nicht von Abgasgerüchen erschlagen wird, am Busgedränge umkommt, oder ähnliche Nebeneffekte der sonst üblichen Überbevölkerung von Städten.
Vielmehr fühle ich mich zwischen den Gassen wie Alice im Wunderland, nachdem der Keks sie wachsen ließ. Gerade noch befinden wir uns auf einer schicken Straße mit elektrisch blinkenden Club-Schildern und modernen Cafés, schon werde ich rechts durch eine tunnelartige Einfahrt gezogen, sie pfeifen die Melodie eines russischen Kinderliedes, ein weiterer schmaler Gang, und wir sind in einem engen Innenhof, mitten im Zentrum der Stadt, und doch noch geheim gehalten vor jedem Reiseführer. Hier hat ein altes Holzhaus überlebt, das wohl schon seit Jahren leer steht und nur ab und zu von Nachtwandlern wie uns bewohnt wird, die sich der Gravitation entgegensetzen, hinaufklettern und sich eine Auszeit von der Zeit nehmen, sich mit nichts wärmen als dem Himmel als Bettdecke.
Wie wirr das alles klingt, aber wie soll ich meine Impressionen anders festhalten? All diese Orte, vom Wald mitten in der Stadt, der Fabrik voller kreativer Köpfe und Töne, bis hin zur Republik Užupis, all das verdient es, mit etwas mehr Poesie als es in normalen Berichten der Dall ist, beschrieben zu werden.
Und ich war dort und habe Engel gesehen, Symbol von Užupis, als Statue auf der Straße, als Bild im Fenster, als Stoffwesen an Türen hängend, und als leuchtende Idee in den Köpfen der Menschen. Und nach solch einer Begegnung glaubt man natürlich an ein bisschen mehr Wunder im Leben!
Es geht zurück in meine Wohnung, zurück zur Arbeit, zurück zu dem, was man wohl Alltag nennt. Und das ist gut so, ich habe mir diese Woche vorgenommen, mit viel Energie an geplante Projekte zu gehen. Und doch, es war etwas Besonderes, für kurze Zeit das Recht zu spüren, am Fluss Vilnelė zu leben.