Alltagsgeschichten
Endlich ist dielene wieder mit der Außenwelt per heimischem Internet verbunden. So kann sie jetzt ganz locker von Estland aus skypen, per Internet Bankgeschäfte tätigen oder sich über Aktuelles auf dem Laufenden halten. Zumindest theoretisch. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.
Ok, da bin ich mal wieder...
Schon wieder sind zwei Wochen rum; wie schnell die Zeit vergeht... Und eigentlich ist in der Zwischenzeit kaum was passiert. Es ist schon fast ein bisschen langweilig.
Vielleicht beginne ich langsam zu verstehen, warum mich alle hier so entsetzt anschauen, wenn ich sage, dass ich für neun Monate (jetzt nur noch acht) hier bleibe. Die übliche Reaktion ist: "Was, und Du machst das FREIWILLIG? Ich nutze jede Gelegenheit, um hier wegzukommen, und Du!?!" Und es gibt hier tatsächlich für junge Leute nicht besonders viel. Für mich allerdings gibt es immer noch viele neue Dinge in dieser Stadt zu entdecken, darum hält sich die Langeweile zum Glück noch in Grenzen!
Internet im trauten Heim
Mittlerweile habe ich Internet zu Hause und genieße es, ganz ungestört und zu jeder Tages- und Nachtzeit Emails schreiben, Busfahrpläne und Kochrezepte raussuchen und mich darüber informieren zu können, was in der Welt so vor sich geht. In den ersten Wochen war es nämlich ziemlich seltsam ohne Fernseher, Zeitung und Internet sozusagen ohne Anschluss zur Außenwelt zu leben. In der Bücherei hatte ich das Internet nur zum Emailschreiben genutzt. Und ausgerechnet dann fanden die Wahlen statt! Im Waisenhaus gibt’s zwar einen Fernseher, aber da läuft höchstens mal Spongebob Schwammkopf auf Russisch.
Was mich echt wundert, ist, dass ich, von den Nachrichten abgesehen, den Fernseher überhaupt nicht vermisse. Ich kann nur allen raten: Versucht es mal ohne; man hat plötzlich soviel Zeit! Das ist echt erstaunlich. Einen richtig guten Film würde ich zwar wahnsinnig gern mal wieder sehen (das Kino hier ist leider außer Betrieb), aber so etwas findet man im normalen Fernsehen ja eh nicht.
Wir haben hier an unserem Computer Windows XP Professional, was angeblich das Beste ist, was es im Moment gibt. Und ich muss schon sagen: diese drei Worte "Lene", "Computer" und "professionell" sind ja an sich schon ein Widerspruch in sich. Aber wer weiß, vielleicht geschieht ja ein Wunder und ich mutier hier noch zum Computerchecker!
Ich hab auch Skype und kann jetzt also auch billig übers Internet telefonieren (zumindest werd ich das bald können; im Moment funktioniert das Mikro noch nicht, aber Ilja will sich heut drum kümmern). Internetbanking kann ich theoretisch auch machen, hab es aber noch nicht ausprobiert.
Ein Hoch auf den estnischen Fortschritt
Hier in Estland ist der Computer extrem wichtig. Und wenn man auch sonst oft merkt, dass es an vielen Stellen an Geld fehlt und Deutschland dem kleinen Estland in den meisten Dingen voraus ist – was Computer und Internet angeht, steht Estland Deutschland in nichts nach! Möglicherweise ist es hierin sogar schon weiter entwickelt. Man kann hier auch über das Internet wählen und ich hab gehört, dass jeder Este einen staatlich verbuchten Rechtsanspruch auf Internetzugang hat. Selbst wenn die Leute eine noch so kleine Wohnung haben und sich bei manchen Dingen noch so sehr einschränken müssen, einen Computer mit Internetanschluss hab ich bis jetzt in jeder Wohnung gesehen!
Warm ums Herz mit heiler Heiztechnik und wärmender Nahrung
Außer Internet haben wir auch endlich unser lang ersehntes Heizöfelchen bekommen, und – oh Wunder – sogar die Zentralheizung läuft mittlerweile. Es war aber auch wirklich schon richtig kalt hier; so kalt, dass ich froh war, dass unsere Wohnung im 4. Stock ist. Da ist einem wenigstens vorübergehend vom Treppensteigen warm, wenn man nach Hause kommt.
Ich hab mir jetzt einen Schal gestrickt in ganz schönen bunten Farben um dem Wetter ein bisschen zu trotzen!
Und ich kann jetzt auch total gut verstehen, warum die Russen den ganzen Tag Tee trinken. Mein Teekonsum hat sich in den letzten Wochen auch erheblich gesteigert, was aber außer mit der Temperatur auch damit zu tun hat, dass ich schlichtweg zu faul zum Wasserflaschenschleppen bin. Ganz von meinem geliebten Kaffee kann ich allerdings noch nicht lassen. Außerdem essen die Russen auch dreimal am Tag warm. Zum Frühstück gibt es meist Kascha, was nichts anderes wie das englische Porridge ist, also ein Gries- oder Haferflockenbrei oder so etwas in der Art. Ich hab heute eine Hirsevariante davon gefrühstückt; ansonsten gibt es zu meinem Leidwesen viel Fleisch und das Essen ist generell sehr fett, der Joghurt ist dafür superlecker. Und der Wodka wärmt natürlich auch...
Was mir jedoch auf ewig unbegreiflich bleiben wird, ist, wie die Russinnen bei jedem Wetter in den kürzesten Miniröcken herumstöckeln können!?
Kinder und Spielzeug
Was die Arbeit angeht, sind wir im Moment immer noch bei den ganz Kleinen. Da sind sieben Kinder im Alter von ein bis fünf Jahren (vorübergehend waren es mal acht) und noch Alina (10). Der kleine Igor (3) ist, als er noch bei seinen Eltern war, aus einem Fenster im 5. Stock gefallen und wie durch ein Wunder hat er nur ein paar Knochenbrüche davongetragen; riesige Narben zieren jetzt seine Oberschenkel und Arme.
Die Arbeit klappt soweit ganz gut und wir helfen so ziemlich bei Allem, was gerade anfällt. Ein Problem ist allerdings, dass die Kinder morgens und mittags im Kindergarten oder in der Schule sind, weshalb es für uns da nicht viel zu tun gibt. Deswegen fangen wir zurzeit auch erst um 16.00 Uhr an.
Wir holen die Kinder vom Kindergarten ab, spielen mit ihnen (so gut es eben geht mit unseren spärlichen Russischkenntnissen), spülen, helfen beim Putzen und mit der Wäsche, verteilen das Essen, bringen die Kinder ins Bett und was sonst noch so anfällt.
Es gibt dort tonnenweise Second-Hand-Spielsachen, die irgendjemand dorthin gespendet hat. Manche sind schon kaputt, wenn sie dort ankommen. Und die, die noch ganz sind, überstehen selten die erste Woche heil. Das Problem ist, das keiner eigene Sachen hat; alle Spielsachen gehören allen und die ersten Sätze, die die Kleinen dort lernen sind: "Das ist meins" und "Gib her". Am Anfang hab ich sie immer gefragt: "Was ist das?" in der Hoffnung, das die Kinder mir dann das russische Wort dafür sagen, das ich mir dann merken kann. Tja, war wohl nix. Die einzige Antwort war "Meins!"(wie die Möwen in "Findet Nemo"!).
Es gibt also laufend Streit um die Spielsachen. Manchmal geht es wirklich drunter und drüber, so dass ich dann wirklich froh bin, wenn wir endlich nach Hause können und ich die Ruhe nach dem ganzen Kindergeschrei genießen kann.
Auf der anderen Seite sind die Kinder aber auch total offen und wirklich leicht zu begeistern, so dass die Arbeit auch viel Spaß macht. Neue Spiele spielen sie sofort mit. Wir haben Spiele aus Pappe gebastelt, die sie ganz gerne spielen, und sie singen jetzt ständig ein Lied auf Französisch, das ihnen Peggy beigebracht hat; natürlich ohne den Sinn zu verstehen.
Im Moment bin ich noch ganz froh, dass ich mit Peggy zusammen in der Gruppe bin, denn man merkt ihr an, dass sie mehr Erfahrung mit Kindern dieser Altersgruppe hat als ich; sie ist da etwas routinierter...
Russisch für Anfänger
Am Freitag haben wir uns das erste Mal mit unserer Russischlehrerin Svetlana getroffen um ein paar organisatorische Dinge zu besprechen und morgen werden wir unsere erste Stunde haben. Svetlana ist eigentlich Englischlehrerin, aber sie hat schon einmal vor Jahren Russisch unterrichtet. Normalerweise braucht hier ja niemand einen Russisch-Kurs; es können ja alle Russisch. Deswegen war es nicht einfach für Ilja, jemanden zu finden, der uns unterrichten kann. Svetlana wird jetzt zwei Mal die Woche je eine Stunde versuchen, uns die russische Sprache näher zu bringen. Ich kann nur hoffen, dass es was bringt...
Svetlana ist eine total warme und herzliche Person und auf alle Fälle auch sehr interessant. Die Sprache ist für sie ein "Baum" und um eine Sprache zu lernen, muss man das "Herz des Baumes erfassen", oder so ähnlich. Und ohne "Harmonie" geht gar nix! Sie würde gerne Französisch, die "Sprache der Liebe", lernen. Ein bisschen stutzig wurde ich, als sie gemeint hat, sie glaube, in ihrem vorherigen Leben in Frankreich gelebt zu haben! Außerdem glaubt sie an die heilende Kraft des Wodkas und sie steht auf selbst gemachten Beerenwein, der angeblich mit nichts zu vergleichen ist, was man im Laden kaufen kann. (Wir werden auch irgendwann mal eine Stunde "learning at the table" machen, wo wir was kochen und sie uns diesen Wein kosten lassen wird; freu mich schon drauf.) Und sie interessiert sich für indische Kultur und Philosophie... Ich mag solche Leute und der Russischunterricht wird bestimmt nicht langweilig werden!
Büchereiausflug zum Zweiten
Am Donnerstag war ich auf meinem zweiten Ausflug mit den Bücherei-Leuten und insgesamt habe ich jetzt sieben estnische Büchereien besichtigt. Was nicht besonders spannend ist, für mich sehen die immer gleich aus.
Aber es war trotzdem ganz gut: Wir waren außer in den Büchereien in einer stillgelegten Ölschiefer-Mine in Kohtla-Järve, was wirklich interessant war. Von ehemals zehn Minen sind heute nur noch zwei in Betrieb. Es war nicht besonders beruhigend zu wissen, dass unter dem Bus, in dem Du gerade sitzt, auf einer Fläche von 18 km² nur leere, mit Wasser gefüllte Stollen sind!
Estland ist ja an sich total flach, aber um Kohtla-Järve herum erheben sich riesige Berge aus Asche, die bei der Verwertung des Ölschiefers übrig bleibt, in den Himmel. An einer Stelle könnte man fast meinen, man sei in Ägypten, weil die drei Ascheberge exakt den Pyramiden in Gizeh gleichen. Und wenn es dann noch ein bisschen neblig ist wie an jenem Tag...
Danach ging es dann an den Kallaste-Wasserfall nahe Toila, einem kleinen Dorf hier ganz in der Nähe. Der Wasserfall ist, soviel ich weiß, der grösste von Estland. Leider hat er zu dieser Jahreszeit nicht viel Wasser, so dass es nicht so spektakulär war. Aber es gibt dort eine richtige Steilküste, die zu jeder Jahreszeit sehenswert ist; ich hätte nicht gedacht, dass es so etwas in Estland überhaupt gibt!
Toila hat außerdem einen wunderschönen Park mit vielen seltenen Baumsorten aus Sibirien und sonst woher. Leider kenn ich mich mit Bäumen nicht aus; ausgeschaut haben sie jedenfalls toll, besonders jetzt im Herbst. In dem Park hat die Villa des ersten estnischen Präsidenten gestanden (als Estland das erste Mal unabhängig war, in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen). Sie muss sehr schön gewesen sein, bevor sie, wie so Vieles hier, von meinen Landsleuten im zweiten Weltkrieg zerstört wurde.
Estnische Liebesmagie
An einer Stelle im Park geht ein Steilhang senkrecht in die Tiefe und unten ist ein malerisches Tal, durch das sich ein Fluss schlängelt. Schon vor zweitausend Jahren galt dieser Platz als magisch und auch heute noch gibt es einen schönen Brauch: Frisch Vermählte hängen an die Kette, die als Geländer am Abhang dient, kleine Vorhängeschlösser mit ihren Namen und einem schönen Spruch. Und den Schlüssel schmeißen sie den Abgrund hinunter. Der Schlüssel ist also fort, so sind sie so auf ewig aneinander gekettet. Süß, oder?
Dem Fluss im Tal werden auch besondere Kräfte nachgesagt: Wenn ein Mädchen keinen Mann findet, dann muss es nur im Wasser des Flusses baden und schon bald wird ihm der ersehnte Traummann über den Weg laufen! Also, an alle unfreiwilligen Singles da draußen, Ihr wisst, was Ihr zu tun habt...
Kulturgenüsse
Ansonsten hat sich bei mir in den letzten beiden Wochen nichts Besonderes ereignet. Ich war letzte Woche mal bei einer Art Malkurs und es hat mir auch ganz gut gefallen. Leider spricht der Lehrer nur Russisch! Diese Woche wollte ich wieder hin, aber ich habe so lange gebraucht, das richtige Haus wieder zu finden, dass sich das Malen dann nicht mehr gelohnt hat.
Gestern waren wir im Theater und es war echt gut. Leider haben wir die ganzen Wortwitze nicht verstanden. Es muss aber sehr lustig gewesen sein, denn die Leute um uns herum kamen aus dem Lachen gar nicht mehr heraus. Die Handlung an sich war zum Glück nicht kompliziert: Die Komödie handelte von einem Ehepaar in der Sowjetzeit, das mit Hilfe eines Hypnotiseurs allerhand wenig Schmeichelhaftes über ihren Ehepartner erfährt, wobei es natürlich zur Ehekrise kommt. Am Ende beschließt der Hypnotiseur, dass es besser für die beiden ist, die Wahrheit nicht zu kennen, und er lässt sie alles wieder vergessen. Tja, die Wahrheit macht eben nicht immer glücklich...
Die Aufführung fand hier in Sillamäe im Kulturzentrum statt, wo rechts und links der Bühne in ordentlich sowjetischer Manier die Köpfe von Marx und Lenin in Großformat in Stein gemeißelt sind, die mit ihren strengen Blicken das wilde Treiben auf der Bühne überwachen! Als weiteres Überbleibsel der Sowjetzeit hat man vom Keller des Hauses außerdem Zugang zum Bunker, der durch große Eisentüren erkennbar ist. Falls aus dem Kalten Krieg doch noch ein heißer geworden wäre...
Ok, das reicht jetzt glaub ich für heute.