Allein unter Tauben
Ich bin plötzlich der einzige Freiwillige im Projekt, ziehe um und entdecke nicht nur eine Küche, sondern auch neue Inspirationen in meiner Arbeit.
So, Natalia ist jetzt gerade mal eine Woche weg und schon ist die Langeweile ausgebrochen.
Soweit ich richtig verstanden habe, ist sie nach Indien gegangen, keine Ahnung, was das soll. Angeblich will sie dort eineinhalb Monate bleiben und dann wieder kommen. Was sie dort vorhat, ist hier so ziemlich jedem absolut schleierhaft.
Ich erinnere mich zumindest noch dunkel daran, dass sie mal irgendwas davon erzählt hat, dort ein Haus für Waisenkinder zu bauen. Meine Natalia baut ein Haus in Indien, das ist ja wohl zum Mäusemelken, ich habe das echt für einen Scherz gehalten.
Bis ich dann über sechs Ecken erfahren habe, dass sie doch tatsächlich bei der slowakischen Nationalagentur Geld dafür beantragen wollte.
Blöd nur, dass Natalia weder einen nachweisbaren Plan, noch die Klarheit hatte, dass die slowakische Nationalagentur eigentlich für die Slowakei zuständig ist.
Es muss wohl eher der Eindruck entstanden sein, dass sie einfach nur Geld zocken wollte. Soweit ich weiß, hat sie aus Ärger über die Ablehnung bei der Nationalagentur noch eine Riesenszene gemacht, als die meinte, sie können leider kein Projekt fördern, dass weder in ihrem Land stattfinde, noch akkreditiert sei, noch sonst irgendwas mit Europa zu tun habe.
Was Natalias Trip nach Indien allgemein betrifft, ist es wohl eigentlich nicht so einfach mitten im Projekt mal nach Indien zu gehen, aber ich glaube die Chefin war ganz dankbar, dass Natalia erstmal weg ist, und hat deswegen auch so unkompliziert den Urlaub bewilligt.
Natalias letzter Arbeitstag für dieses Jahr war der vorletzte Freitag, da hat sie noch im Flur rumgetönt, dass die Chefin ihr Geld stehlen würde.
Ich muss zu Natalias Verteidigung sagen, dass das glaube ich nicht ganz falsch ist.
Wir bekommen zwar für alle regulären Urlaubstage, die wir nicht arbeiten trotzdem unser Verpflegungsgeld, doch für die freien Tage extra, die Natalia ausnahmsweise noch bekommen hat, werden ihre täglich 5 Euro Essensgeld von der Chefin einbehalten.
Darüber kann man streiten und das hat man auch. Hier flogen noch mal richtig die Fetzen bis sich Natalia dann mit großem Getöse verzogen hat.
Sie meinte sie muss nach Indien um ihre innere Mitte zu finden und in ihrem innersten Inneren zu meditieren.
Die Idee per Anhalter nach Indien zu fahren, habe ich ihr zum Glück ausgeredet, das hätte ich nun wirklich nicht verantworten können.
Sie hat jetzt einen Flug von und nach Kiew, meine Hoffnung ist, dass sie auf ihrer Rückreise nach Europa vielleicht in Kiew bleiben wird.
Jedenfalls ist sie jetzt eine gute Woche dort, wo im wahrsten Sinne das Wortes "der Pfeffer wächst" und ich muss zugeben, dass sie mir fast schon ein bisschen fehlt. Sie hatte immer so eine kreative Art Chaos und Unruhe zu stiften.
Neuigkeiten gibt es übrigens auch in meiner Unterkunft.
Ich habe am vorletzten Donnerstag gemerkt, dass man die Tür zu meinem Zimmer nur noch mit „Gegentreten“ öffnen kann. Der Türrahmen ist komplett verzogen, der Putz drum herum teilweise eingeschlagen, es sieht so aus, als hätte dort jemand versucht gewaltsam einzubrechen. Angeblich, so hieß es an der Rezeption, sollte da nur was repariert werden.
„Aha, so sieht’s auch aus“, dachte ich mir und irgendwie erinnerte mich der Zustand meiner Tür stark an Natalias Art Konflikte zu lösen, aber ich halte es dennoch für ausgeschlossen, dass sie meine Tür auf dem Gewissen hat.
Jedenfalls wollen die das in Ordnung bringen, aber dafür sollte ich umziehen. Und zwar ... in Natalias Zimmer!!!!
Na wunderbar.
Ich habe versucht das möglichst lange hinauszuzögern, aber die Unterkunft setzte sich jedoch mit Putzstreik zu wehr.
Eigentlich habe ich Anspruch darauf, dass bei mir geputzt wird, aber so lange ich mich nicht bereit erkläre umzuziehen, putzen die kein Staubkorn. Man kann sich vorstellen wie es bei mir aussah. Ich muss hinzufügen, dass die mit dem Putzen eh nie so konsequent waren, jedenfalls nicht so konsequent wie im Kassieren von Reinigungsgebühren.
Ich habe den Umzug dann doch hinter mich gebracht und sitze jetzt in Natalias Bude. Ich wusste übrigens gar nicht, dass Natalias Zimmer die ganze Zeit über eine Küche verfügt hat, während ich die letzten drei Monate kalt gegessen habe. Die Küche hat mir das "Aas" die ganze Zeit vorenthalten, aber ich bin trotzdem total froh, dass ich auf diese Weise doch noch in den Genuss einer Kochgelegenheit komme. Wenn Natalia wieder kommt, dann soll sie mal schön in mein altes Zimmer, ich werde der Leitung einfach sagen, dass ich es für unzumutbar halte, ein zweites Mal umzuziehen, auch wenn ich vorläufig mit Natalias Zimmer noch nicht so ganz zufrieden bin. Ich möchte wirklich nicht unsachlich sein und ich räume ein, dass das meine subjektive Meinung ist, aber es riecht echt übel hier.
Natalias Geruch trotz jeder Duftkerze, selbst die aggressivsten Raumsprays können hier einpacken. Also von „Verduften“ kann man in Natalias Fall echt nicht sprechen.
Beängstigend ist auch der Zustand ihrer Schreibtischplatte, es sieht so aus, als würde sie da ständig mit einem scharfen Messer oder einer ähnlichen Waffe reinhacken, jedenfalls ist das Holz voller Kerben und Kratzer.
Ansonsten bin ich in letzter Zeit so viel auf der Arbeit wie noch nie.
Seit der Kontrolle durch die Nationalagentur, haben wir (besser gesagt ich, Natalia hat sich ja verdrückt) längere Arbeitszeiten.
„Netterweise“ wurde unsere Mittagspause so gelegt, dass es sich nicht lohnt in die Unterkunft zu gehen (die Rache der Chefin ist allgegenwärtig) und deswegen bin ich meistens von 9 bis 18 Uhr in der Einrichtung, in der ich in der letzen Zeit nur noch am Gipsherzen rot Anpinseln bin.
Es hieß zwar noch „den Freiwilligen solle ab jetzt mehr Raum geboten werden, eigene Ideen zu entwickeln“ aber der Weihnachtsmarkt naht und die gehörlosen Kinder weigern sich standhaft diese dämlichen Herzen anzumalen. Also bleibt alles an mir hängen. Ich habe mich allerdings mit einem Zeitlupenarbeitstempo gerächt. Vor allem als ich erfahren habe, dass während Natalias Abwesenheit kein Sprachkurs und kein Kurs der Internationalen Gebärdensprache stattfinden wird, weil sich das ja für einen einzigen Freiwilligen nicht lohnt. Na toll.
Ach so, und die Zeit, die diese Kurse in Anspruch genommen hätten, soll jetzt natürlich für die Gipsherzen verwendet werden. War ja klar.
Allerdings haben die jetzt auch gecheckt, dass ich nicht deswegen mehr arbeite, weil die mir weniger Aktivitäten gewähren und deswegen wurden von unserer Chefin auch noch die beiden gehörlosen Mitarbeiterinnen zum Gipsherzen Bemalen beordert.
Seit nun einer Woche sitze ich also von früh bis spät im Bastelraum und habe endlich die Möglichkeit das Leben der Gehörlosen, die ich sonst immer nur auf Computermonitore starren sah, hautnah zu erleben. Mittlerweile habe ich mich auch daran gewöhnt, „Lekes“ genannt zu werden.
Da die Gehörlosen ja nicht stumm sind, sondern eben nur gehörlos, haben sie oft einen einwandfreien Stimmapparat, dessen sie sich einfach nur nicht so geschickt bedienen können, wie wir Hörenden, da sie nicht wissen wie welcher Buchstabe klingt und wie sie sich korrigieren können.
Dennoch lernen viele gehörlose Kinder in mühsamer Arbeit mit Sprechtrainern und Logopäden, Laute zu artikulieren, auch wenn sie nicht einmal erahnen, wie ihre eigene Stimme klingt.
Da das „A“ einer der oberflächlich artikulierten und deshalb schwer zu vermittelnden Laute ist, und das „X“ eigentlich eine Kombination aus „K“ und „S“ ist, sagen sie immer nur „Lekes“, wenn sie „Alex“ meinen.
Die Stille im Bastelraum hat was Meditatives. Manchmal hört man (beziehungsweise ich) die Chefin auf dem Flur rumbrüllen. Die beiden Gehörlosen Mitarbeiterinnen pinseln allerdings harmonisch weiter.
Manchmal versuche ich zu gebärden welche Worte auf dem Flur geschrieen werden, ich mache dann immer ganz ausladenden Pantomimen dazu und den Gehörlosen begreiflich zu machen, was dieses Geschrei bedeutet. Sie sind immer ganz amüsiert über meine Gebärden. Sie verstehen kein Wort.
Mir gefriert manchmal das Blut in den Adern, wenn ich höre was sich auf dem Flur abspielt, und es ist so grotesk, wie regungslos mein Gegenüber bleibt
- eben in einer total anderen Dimension der Wahrnehmung.
Dass sich ein gehörloser Mensch Geräusche nicht mal vorstellen kann, fasziniert mich jeden Tag neu.
Je mehr Zeit ich unter den Gehörlosen verbringe, je höher der Stapel mit bemalten Gipsherzen wird, umso mehr fühle ich mich als Vermittler zwischen den Welten. Zwischen meiner, der lauten und unruhigen, und ihrer, der stillen und in sich ruhenden Welt.
Es ist eine Welt, in die ich mich flüchten möchte. Flüchten, wenn der Lärm über mir donnert, wenn die Chefin mich anschreit, wenn ich Natalias Gezeter in meinen Kopf echoen höre, dann will ich dort sein, in die stille Welt, in der vor meinen Augen tagtäglich gelebt wird, die zum Greifen nah und ganz anders und fremd ist und die ich mir mit meinen gebärdenden Händen Tag für Tag ein Stückchen mehr zu erschließen versuche.
Ich versuche mir manchmal vorzustellen, wie es ist, sich keine Geräusche vorstellen zu können.
Ich frage immer wieder die für mich selbstverständlichsten Dinge:
„Wie klingt ein Presslufthammer?“ „Ist ein Apfel der vom Baum fällt laut oder leise?“
Dann fragen sie zurück: „Was heißt klingen?“ „Was ist laut, was ist leise?“
Sie haben keine Vorstellung, gar nichts, nicht einmal die Ahnung eines Klanges.
Es heißt dann immer „Lekes“ und dann kommen Gebärden:
„Wir-leben-in-Welt-von-Stille“ und dann legen sie immer den Zeigefinger senkrecht auf die geschlossenen Lippen. Das heißt in der Gebärdensprache „Stille“.
Ich versuche manchmal Möglichkeiten zu finden, ihnen Geräusche zu vermitteln.
Mit Gebärden, Mimik, Gestik, mit der roten Herzfarbe, mit der ich nervös unruhige Striche übers Papier ziehe, wenn die Chefin wieder einen ihrer Ausbrüche hat. Sie schauen es sich an und sehen rote Striche. Kein Geräusch.
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