2008-LT-10 EVS in Litauen (also quasi in Lettland und in der DDR)
In einem Hinterhofkeller, am Ende eines langen Ganges und hinter einer Art Bunkertür verbirgt sich Spalvas Organisation Saltes. Hier lernt sie ihre ersten Wörter Litauisch...
Die Zeit hier scheint zu fliegen. Schon jetzt habe ich Angst, nicht genügend Zeit zu haben.
Highlights der vergangen Tage:
Bei meinem zweiten Ausflug nach Downtown Vilnius stehe ich mit Eglė und Steffi in der Innenstadt an einer Ampel. Just als es grün wird, beginnt eine scheinbar uralte Frau auf Steffi einzureden und hackt sich bei ihr unter, will offensichtlich über die Straße geführt werden.
Die beiden sind ungefähr bei der Hälfte der Straße angelangt, als Steffi auch endlich zu Wort kommt und unseren bis jetzt sinnvollsten Satz „Aš nekalbu lietuviškai“ („Ich spreche kein Litauisch“) loswerden kann. Doch das stört die alte Dame keineswegs, sie spricht erstaunlich gut Englisch und bedankt sich bei Steffi.
Mit Steffis Hilfe und den Fotoklipsern, die ich mir letztes Jahr in Helsinki gekauft habe, habe ich mir einen Vorhang aus Fotos und Postkarten gebaut, der nun auf der Fußseite meines Bettes hängt und zusammen mit anderen Postern und Fotos mein Zimmer schon sehr viel weniger leer macht.
Eglė holt Steffi und mich von der "Green Bridge" ab und zusammen gehen wir zu Saltes, unserer Koordinationsorganisation, für die Eglė arbeitet, weil wir dort unseren ersten Litauischunterricht erhalten sollen.
Wir biegen von der Hauptstraße ab, laufen eine kleinere Straße entlang, in der noch moderne, hohe Häuser stehen, doch langsam werden die Gebäude ungepflegter und kleiner. Schließlich gehen wir in einen kleinen Hinterhof, auf ein ein bisschen heruntergekommenes Gebäude und einen Kellereingang, auf dessen Tür Gras wächst, zu: der Sitz meiner Koordinations-Organisation Saltes!
Ich bin etwas skeptisch als wir eine schmale Treppe hinunter steigen und einen engen, dunklen Kellerkorridor entlang gehen, in dem Sandsäcke an den Wänden liegen – offensichtlich die Überreste der regenbedingten Wassermassen, die Vilnius vor ein paar Wochen überschwemmten.
Dann am Ende des Ganges: eine braune Tür, die mich stark an eine Bunkertür erinnert. Eglė schließt sie auf: das Büro von Saltes! Doch der Raum sieht besser aus, als der Eingang zu ihm jemals hätte vermuten lassen können. Blauer Teppichboden, mehrere Schreibtische an der Wand, viele Bücher, aber auch Fotos und Poster, eine kleine Kaffe- und Teeküche und ein Tischchen mit zwei Stühlen in der Mitte. Nur leider sind die meisten Dinge, wie Ordner, auf Grund der Überflutung noch immer vorsorglich in Plastiksäcken verstaut.
Unsere erste Litauischstunde, die wir kurz darauf beginnen, verläuft besser als ich gedacht hätte, obwohl ich das meiste bereits wusste.
Nach dem ersten Treffen mit meiner Tutorin Inga, die bei der Arbeit für mich zuständig sein wird und die mir zum ersten Mal meine Organisation "Paramos Vaikams Centras" ("Children Support Centre") zeigt, gehe ich noch mit ihr Mittagessen, in ein wunderschönes und traumhaft billiges Lokal in Žverynas (einem alten Stadtteil von Vilnius, in dem auch "Paramos Vaikams Centras" ist), in dem ich zwei litauische Spezialitäten (Saltibarščai – eine kalte Sommersuppe aus Roter Beete und Gurken, die man mit warmen Kartoffeln und Dill isst, und Bulviniai – was eigentlich nichts anderes als Kartoffelpuffer ist, Kartoffeln ist hier sowieso die Hauptspezialität) esse und mich mit Inga unterhalte.
Sie ist 28, Psychologin, hat gerade einen gewissen Robin Mück aus Erlangen geheiratet und scheint sehr nett und natürlich zu sein.
Auf dem Rückweg finde ich ohne Probleme – ok, so weit ist es eigentlich wirklich nicht – mein Wohnheim und bin plötzlich so stolz und glücklich hier zu sein, alleine Trolleybus zu fahren, alleine durch die Straßen von Vilnius zu laufen, mir hier nicht mehr noch so fremd vorzukommen wie noch vor zwei Tage, als ich ankam, auf Werbetafeln einzelne Wörter zu verstehen (auf der Speisekarte konnte ich bereits die Wörter für Quark, Käse, Brot, Milch, und Salat lesen), allein auf Grund meiner Entscheidung hier zu sein und das alles erleben zu dürfen.
Ich bin so fröhlich, als ich bei meiner Haltestelle aussteige, dass ich, nachdem ich auch noch in den Secondhandladen gleich bei meiner Bushaltestelle hineingehe und er sich als superbillig und interessant rausstellt, den ganzen Weg zum Wohnheim hüpfe und singe, und Steffi ein bisschen überrascht ist, als ich so euphorisch in ihr Zimmer hineinplatze.
Im Moment sind wir Freiwilligen fast alleine in unserem Wohnheim. Gonçalo, Tako, Steffi und ich wohnen im ersten Gebäude, Lina und Nuard im zweiten, doch Studenten sind jetzt in den Semesterferien nur selten zu sehen. Die anderen Freiwilligen, die schon länger hier wohnen, haben mich bereits vorgewarnt, dass die Studenten nicht besonders freundlich seien, kein Interesse zeigen und nicht mit uns reden wollen.
Schon gestern habe ich gegenteilige Erfahrungen gemacht: Nachdem Steffi und ich zum zweiten Mal beim Abendessen, das wir draußen auf dem Rasen vor dem Wohnheim eingenommen haben (einen Tisch außer unseren Schreibtischen haben wir leider nicht), einen Studenten treffen, der ebenfalls auf dem Gras sitzt und die Sonne genießt, grüße ich ihn mit "Labas!", weil er mir winkt.
Das veranlasst ihn kurze Zeit später zu uns herüber zu kommen und er beginnt auf Litauisch mit uns zu reden. Nachdem wir ihm klarmachen, dass dies ein sinnloses Unterfangen ist, müht er sich noch einige Zeit auf Englisch ab, doch es ist ebenfalls fast sinnfrei, sein Englisch ist sehr schlecht bis kaum vorhanden.
Doch ich freue mich trotzdem, weil er sich so sehr bemüht und bin wütend auf mich selbst, weil ich noch nicht einmal "Ich bin eine Freiwillige, ich arbeite mit Kindern" auf Litauisch sagen kann. (Ich lerne es noch am selben Abend von Asta, einer Litauerin, die zu der ersten Freiwilligen-Party kommt, auf die ich gehe.)
Am Freitagmittag treffen Steffi und ich uns mit unserer Mentorin, einer Person außerhalb unserer Koordinationsorganisation und außerhalb unserer Arbeit, die wir immer kontaktieren können, wenn wir Probleme menschlicher Art haben oder nicht wissen, wie wir unsere Freizeit gestalten sollen, die uns gute Orte in Vilnius zeigt und mit uns Kaffee trinken geht.
Unsere Mentorin heißt Jurga, ist ungefähr 26, und hat gerade EVS in Frankreich gemacht. Als wir sie treffen, trägt sie ein rotes Kleid und sieht herzallerliebst aus und genauso verhält sie sich auch. Leider hat sie nicht viel Zeit für uns, nur ungefähr eine Stunde, weil sie zur Zeit viel beschäftigt ist, da sie bald heiratet. (Steffi ist von der Vorstellung, zu einer litauischen Hochzeit zu gehen, begeistert und ist überglücklich als Jurga vorschlägt, dass wir vielleicht kommen könnten).
Am Samstag schaffen es Steffi und ich doch tatsächlich, mit Bus und Trolleybus circa eine Stunde aus der Stadt heraus zu fahren, bis zu einem See, der "žalias ežeras" ("grüner See") heißt.
Während Downtown Vilnius wunderschön und kein bisschen sowjetisch ist, sieht man den Outskirts der Stadt ihre Vergangenheit schon an, die Häuser werden erst immer größer, immer mehr Wohnblöcke, immer mehr Plattenbauten, dann immer kleiner, immer mehr Holzhäuschen in den grünen Wiesen, vor denen Wäsche im Wind flattert.
Dann der See: Er ist riesig, mit Nadelbäumen umgeben, liegt mitten in einem Wald. Also liegen wir den ganzen Nachmittag dort herum, ich lerne ein paar Vokabel, höre Musik und springe ins Wasser, jedes Mal wenn es mir zu heiß wird.
Das Wetter hier ist sehr interessant. Es ändert sich viel schneller als bei uns, einmal ist es bewölkt, es sieht fast so aus, als würde es regnen, dann scheint die Sonne, dann regnet es tatsächlich, dann scheint wieder die Sonne. Und die ganze Zeit ist es währenddessen heiß und vor allem schwül. In den letzten Tagen hatten wir selten unter 28 Grad. Unglaublich gespannt bin ich auch schon von den minus 20, von denen alle schon jetzt reden und die manche fürchten.