Vertraute Fremde
"Der ist nicht fremd, der teilzunehmen weiß." (Johann Wolfgang von Goethe)
In Europa reicht schon ein kleiner Schritt nach links, rechts, vorn oder hinten und schon begegnet man einem neuen Volk, einer neuen Kultur, einer neuen Welt. Mein Schritt war allerdings etwas größer, genauer gesagt 2.164 km. Einmal von der deutschen Ostseeküste an die bulgarische Schwarzmeerküste. Von dem Land, in dem ein Terminkalender zum Alltag gehört, in das Land, in dem ich meinen bis dahin wohl strukturierten Kalender schon nach einem Tag in den Papierkorb verfrachtete. Fremd in Europa? Das war ich für neun Monate in Bulgarien, jetzt bin ich fremd in Deutschland.
Ich bin in einer Seifenblase aufgewachsen. Perfekte Vorstadtidylle. Pädagogeneltern. Musikschulunterricht bis zum Umfallen. Dann 2.164 km und zweieinhalb Flugstunden später begann meine Arbeit im städtischen Waisenhaus in Varna und somit mein Kulturschock Nummer eins.
Kinder, die ohne Spielzeug aufwachsen.
Kinder, denen Hygieneartikel völlig fremd sind.
Kinder, die der Staat, die Gesellschaft, ihre Eltern nicht haben wollen.
Kinder ohne Bildung, ohne Zukunft.
Da stand ich nun zwischen 30 aggressiven und doch so verzweifelt nach Liebe suchenden Kindern, manche davon in meinem Alter, geistig allerdings zehn Jahre jünger. Ich, die Blondine zwischen den Sinti- und Romakindern, ohne auch nur ein Wort bulgarisch zu verstehen. Aber ein einfaches Lächeln kann Fremde zu Vertrauten machen.
Die Zeit verging. Ich lebte mich ein. In meinem Kopf wirbelten die ersten bulgarischen Wörter durcheinander. Ich gab Englischunterricht und gemeinsam mit meinen beiden Kolleginnen bastelten, malten, tanzten, sangen, rannten, hüpften und lachten wir mit den Kindern.
Wenn man gerade denkt, es kann nicht schöner werden, dann schlägt einem seine ehemalige Flötenlehrerin vor, ein Benefizkonzert mit den Schülern der Musikschule zu veranstalten, sie üben emsig acht Wochen und spielen dann sage und schreibe 734€ ein, welche die jungen Musiker den Waisenkindern in Varna spenden.
734€. Das ist schon in Deutschland viel Geld, in Bulgarien allerdings ein Vermögen. Das Vermögen wollten wir sinnvoll nutzen und so planten wir ein Wochenendcamp für zehn der Kinder im naheliegenden Pfadfinderlager. 2 Tage –mehr genehmigte die Kinderheimleitung nicht.
Da gesundes Essen, Hygiene und im Allgemeinen das Wohl der Kinder im Waisenhaus viel zu kurz kommen, legten wir bei unserer Planung immensen Wert auf diese Faktoren.
Am Samstag um halb zehn holten wir die Kinder aus dem Waisenhaus ab. Ursprünglich hatten wir Angst, dass einige von ihnen noch schlafen würden, weil die Sommerferien bereits begonnen hatten, aber falsch gedacht: die Kinder sprangen schon aufgeregt auf dem Hof herum. Alle waren fertig, nur die zwei Betreuer aus dem Waisenhaus, die mitkommen sollten, leider nicht. „Geht schon mal vor, wir kommen später, müssen noch einen Kaffee trinken“, sagten sie nur. Kein Kommentar.
„Anna, ich bin so aufgeregt! Ich habe noch nie einen echten Zug gesehen!“, flüsterte Rosa mir am Bahnhof zu, während sie meine Hand ganz fest gedrückt hielt. Die Zugfahrt war dann schon das erste kleine Abenteuer. Ich musste unzählige Male mit den Kindern auf die Zugtoilette gehen, weil sie es dort aus irgendeinem Grund super spannend fanden, aber sich nicht trauten allein hinzugehen.
Im Nachbarort angekommen ging es in einer Taxikolonne von fünf Taxen aus der Stadt raus zum Pfadfindercamp, das mitten im Wald liegt: kein Handyempfang, absolute Stille, absolutes Naturerlebnis. Dort hatten die anderen EFD-Freiwilligen bereits alles vorbereitet: Die Kinder fanden auf ihren Betten kleine Briefumschläge mit verschieden farbigen Armbändern, die anzeigten, zu welchem Team man für die Küchendienste und die bevorstehenden Spiele gehörte und je eine Wasserpistole, die auch gleich zum Einsatz kamen. Während die Kinder das Camp erkundeten und sich von oben bis unten mit Wasser beschossen, kochten wir Mittag. Es war uns sehr wichtig, dass die Mahlzeiten geregelt ablaufen, gesund gekocht wird und vor allem gemeinsam gegessen wird, weil die Kinder das aus dem Waisenhaus nicht gewohnt sind.
Nach dem Mittag war Zeit für Basketball, Fußball, Volleyball, Badminton, Verstecke spielen,... Die Kinder kletterten im kleinen „Adventure-Park“ des Camps, rannten, bauten Schneckenfarmen, fanden Frösche und lernten, dass Brennesselstiche weh tun können. Es wurden Bälle aus Reis und Luftballons gebastelt und wer Lust hatte, konnte T-shirts bemalen und batiken.
Zum Abendbrot machten wir ein großes Lagerfeuer. Ursprünglich gab es –wie gesagt- ja Teams, die bei jeder Mahlzeit helfen sollten. Aber im Endeffekt brauchten wir nie jemanden aufzufordern. Niemals schaffte ich es, etwas von der Küche zur Feuerstelle zu tragen, weil die Kinder einem schon in der Küchentür entgegen sprangen, die Sachen aus der Hand rissen, zum Feuer schleppten und ständig fragten, wie sie denn noch helfen könnten.
Es wurde gesungen, ums Feuer getanzt und wir ließen gemeinsam eine chinesische Laterne mit unseren Wünschen und Träumen in den Nachthimmel aufsteigen. Als es dunkel war und die Glühwürmchen herumflogen, dachten die Kinder, die diese Insekten noch nie gesehen hatten, dass jemand aus dem Wald ihnen Lichtzeichen geben würde. Von dem Zeitpunkt an, musste ich wieder mit jedem zusammen auf die Toilette gehen, weil besonders die kleinen Kinder sich zu sehr fürchten.
Irgendwann war es aber doch Zeit zu schlafen und wir brachten die Kinder in die Betten. Eine halbe Stunde musste ich Schlaflieder im Mädchenzimmer singen, weil sie zu viel Angst vor „dem Mann, der uns aus dem Wald Zeichen gibt“ hatten. Dann ging ich langsam aus dem Raum, flüsterte „Gute Nacht“ und „ich habe euch alle sehr lieb“, schloss die Tür und wartete noch kurz, ob sie auch wirklich einschlafen würden. Aus dem Inneren des Raumes hörte ich eines der Mädchen tuscheln: „Habt ihr gehört? Anna hat gesagt, sie hat uns sehr lieb!“
Das Aufstehen am nächsten Morgen fiel einigen deutlich schwer, aber das Frühstücksteam half mir sehr ambitioniert in der Küche. Gemeinsam mit dem sechsjährigen Aichan bereitete ich den Kakao vor, absolutes Neuland für ihn. Nach dem Frühstück stand gemeinsames Zähneputzen und anschließend Duschen auf dem Plan.
Als alle die Zähne sauber geschrubbt waren, folgte einer Attraktion die nächste: Spielewettkampf, spanische Paella essen, Wasserballonschlacht. Ich habe noch nie in so glückliche Kindergesichter geschaut und es waren für mich die schönsten zwei Tage meines Lebens.
Als wir wieder in einer langen Taxischlange zurück zum Bahnhof fuhren, schaute ich auf die drei kleinen Jungs in meinem Taxi, die zu dem bulgarischen Rap aus dem Radio mitsangen, laut lachten, die vorbei fliegende Natur aus dem Autofenster bestaunten und den Sonnenuntergang genossen, da hatte ich eine kleine Träne im Auge.
Europa verbindet. Aber es schafft lange noch nicht die gleichen Möglichkeiten für alle.
Fremd? So fühle ich mich jetzt in Deutschland, wo ich Zehnjährige über ihr neues iPhone reden höre.
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