Von Zeit zu Zeit
Was ich mit der Zeit mache und die Zeit mit mir. Eine persönliche Auseinandersetzung.
Zypern hat uns kalt erwischt.
Ich kann die eiskalten Luftzüge an meiner Haut vorbeistreichen fühlen, die Gardienen neben mir bewegen sich im gleich Rhythmus wie die Bäume im Park gegenüber. Mit geschlossenen Augen versuche ich mich an die drückende Hitze im vergangenen September zu erinnern, an das Gefühl einer feuchtwarmen Haut, die sich nach kühlen Luftzügen sehnt. Beim ersten Schritt aus dem Flughafengebäude hat mich damals eine Wand aus warmer Luft empfangen, tagsüber war es draußen kaum auszuhalten gewesen und nachts war sogar das dünne Laken zu warm gewesen um sich damit zuzudecken zum Schutz vor den Mücken. Es gelingt mir nicht. Ein besonders kräftiger Windzug jagt mir stattdessen einen Schauer den Rücken hinunter. Ich versuche dem Impuls, die Heizung anzustellen, zu widerstehen. Die Rechnung für die Heizkosten der letzten drei Monate betrug 1600€, also lieber erst einmal keine neuen Kosten mehr produzieren. Ich trinke Tee und warte ab. Ich warte darauf, dass die Zeit verstreicht und es endlich Frühling wird. Es ist der kälteste und regenreichste Winter auf Zypern seit ungefähr 50 Jahren.
Und trotzdem bin ich froh hier zu sein.
Obwohl ich es mir nicht einmal ausgesucht habe. Ich habe einfach Ja gesagt, nachdem andere Pläne gescheitert waren und mich die Entscheidung, wo ich was studiere, überfordert hat. Ich kam ohne zu wissen, was genau auf mich zukommt und was ich von hier mitnehmen würde. Ich hatte wenige Erwartungen. Der Gedanke für zehn Monate auf Zypern zu leben gefiel mir. Vermutlich war ich ein bisschen enttäuscht, als ich auf der Fahrt vom Flughafen nach Nikosia die vertrocknete Landschaft sah. Ich weiß es nicht mehr. Umso schöner war es dann jedoch zu beobachten, wie die Natur mit den ersten Regenfällen im Herbst wieder zum Leben erwachte. Die Insel brauchte dieses Wasser und ein bisschen Zeit.
Ja, sie braucht Zeit. Es heißt, die Zeit heilt alle Wunden. Wie eine Wunde tragen die Menschen auf Zypern die Ereignisse der Vergangenheit, die politische Gegenwart mit sich herum, bei einigen ist die Wunder tiefer, sie reißt leichter wieder auf und ruft sich mit einem dumpfen Pochen immer wieder in Erinnerung.
Die Unsicherheit im Umgang mit dieser Situation habe ich auch nach einem halben Jahr nicht abgelegt.
Fakt ist, Zypern ist geteilt, ich lebe im Südteil. Die Teilung Zypern nach der türkischen Invasion 1974 hat Familien auseinandergerissen, die nie wieder vereint werden können. Menschen wurden aus ihren Häusern vertrieben und auf grausamste Weise getötet. Seit der teilweisen Grenzöffnung ist es möglich sich von einem Teil in den anderen zu bewegen, aber vor allem viele Südzyprioten lehnen es ab, den Norden zu besuchen. Sie wollen diesen Teil nicht als türkisch akzeptieren, für sie ist er nur besetzt und durch einen Grenzübertritt würden sie die Grenze als eine solche anerkennen. Obwohl niemand gerne über darüber spricht ist die Teilung allgegenwärtig. Vielleicht ist noch nicht genug Zeit vergangen, vielleicht ist die Zeit aber auch machtlos, wenn es um offene Wunden geht.
Als Durchschnittseuropäer weiß man nicht wirklich viel über Zypern. Ich habe mir die Zeit genommen, dieses Land, seine Einwohner und deren Kultur kennen zu lernen, dabei stelle ich mich Herausforderungen, mit denen ich wahrscheinlich zuhause in Deutschland nicht konfrontiert geworden wäre. Barrieren in der Sprache, andere Standards, fremde Anschauungsweisen.
Darüber hinaus habe ich Menschen getroffen, die meinen Blickwinkel auf das Leben verändert haben. Menschen, die an Dingen außerhalb der persönlichen Komfortzone wachsen und sich weiterentwickeln. Menschen. die an Hindernissen scheitern oder an sich selbst zerbrechen. Nie zuvor ist mir so deutlich vor Augen geführt worden, die labil die menschliche Psyche ist und wie der Druck der Zeit auf sie wirkt.
Für mich persönlich habe ich erkannt, dass das Glück kein andauernder Zustand der Perfektion ist, sondern die kleinen Momente der Vollkommenheit, die einen einfach überkommen. Solche Momente habe ich hier.
Und dann sind da noch die anderen Momente. Die, in denen ich darauf warte, dass die Zeit verstreicht, häufig allmorgendliche Vormittagsschichten ohne sinnvolle Beschäftigung, in denen die Stunden dann großzügig dem Zeitfresser Internet überlassen werden. Zeiten der Untätigkeit. Die Minuten werden dann träge und geben Raum für Gedanken über die Verschwendung von zehn Monaten, welche ich vielleicht besser für die zwei ersten Semester eines Studiums hätte nutzen können. Verwerfen möchte ich diese Gedanken nicht. Es ist möglich, dass ich meine Zeit sinnvoller hätte füllen können.
Stattdessen habe ich mich dafür entschieden, meine Zeit in die Erfahrungen eines Freiwilligendienstes im Ausland zu investieren - und dadurch Zeit gewonnen. Zeit zur Reflektion über meine Vergangenheit, Zeit die Momente der Gegenwart zu leben und Zeit für die Entscheidungsprozesse, die meine Zukunft betreffen.
Alle Momente, egal ob sie vollkommen sind, uns zum zweifeln bringen, Wunden aufreißen oder uns wachsen lassen, haben die Eigenschaft der Einmaligkeit. Für mich bietet der Freiwilligendienst auf Zypern eine Fülle von gewonnenen Momenten, die mit ihrer Einmaligkeit so wie sie sind nur jetzt stattfinden können.
Ich will diese Zeit nicht bewerten. Ich will versuchen sie einfach nur wertzuschätzen.
Schöne Zeiten haben noch eine weitere besondere Eigenschaft, sie fliegen. Wenigstens brauche ich mir deshalb bald keine Sorgen mehr um die Heizkosten machen.
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