Wand aus Glas
Und es ist immer etwas zwischen uns, das wir nicht sehen können, nur fühlen. Ich stelle mir vor, zwischen uns steht eine Wand aus Glas.
Du bist da, so nah bei mir. Ich sehe deine halb geschlossenen Augen, das Lächeln auf deinen Lippen, die Umrisse deines Körpers, die sich dunkel vom sonnenhellen Gegenlicht abheben. Der Geruch deiner noch feuchten Haare weht zu mir hinüber und jede deiner Bewegungen wird von einem sanften Rascheln begleitet, das meinen Ohren nicht entgeht. Wenn ich dir in die Augen schaue, kann ich die winzigen goldfarbenen Punkte im klaren Braun erkennen, kann deine Wimpern zählen, mich in der Dunkelheit deiner Pupillen verlieren. Manchmal fürchte ich mich davor, meine Augen zu schließen, aus Angst, du könntet verschwunden sein, wenn ich sie wieder öffne.
Du öffnest deinen Mund und die Buchstaben flattern wie Schmetterlinge zu meinen Ohren und dann in mein Herz, wo ich all deine Laute einfangen möchte. Auch meine Lippen formen Buchstaben und langsam verwandeln sich die seichten Bäche unserer Worte in sprudelnde Flüsse aus Sätzen. Und wenn Gedanken sich ergänzen und unsere Geschichten sich gegenseitig weitererzählen, dann hören Raum und Zeit auf zu existieren.
Ich spüre die Wärme deiner Nähe, die sich wohlig in mir ausbreitet und von Zeit zu Zeit zu einer feurigen Glut in meinem Innersten heranwächst, die mir das Atmen schwermacht. In mir drinnen sammeln sich die Nähe und die Sorglosigkeit, die ich mir für uns wünsche; all die Dinge, die mein Herz für dich empfindet; alles was ich dir geben möchte. Und schon kann ich spüren, wie deine Hände in den Meinen liegen und sich halten, uns festhalten. Ich sehe vor mir, wie sich meine Arme um dich legen; dann fliegen wir davon und landen irgendwann in einer Welt, in der es nichts gibt, was unseren Träumen Grenzen bietet und keine Wand aus Glas uns trennt.
Fast hätte ich sie vergessen, doch mit dem Kommen und Gehen eines einzigen Augenblickes regiert die Glaswand wieder über unserem Zusammensein. Plötzlich bist du unerreichbar weit entfernt und ich kann nicht einmal mehr unterscheiden, ob deine Wärme mich erfüllt, oder ob meine eigenen Gefühle für dich an der kalten Wand in unserer Mitte abprallen wie Regentropfen an einem Fenster und in ihrer ganzen Fülle zu mir zurückgeworfen werden.
So wie das Licht sich auf dich und mich niederlegt, bringen die Strahlen ihren eisigen Schein fast schmerzhaft zum Leuchten, oder aber die Wand aus Glas scheint sich für Momente darin aufzulösen. Oh wie oft konnte ich sie schon vergessen, diese starre Wand zwischen dir und mir! Wenn deine Augen für Ewigkeiten auf meinen Augen ruhen und alles um uns herum verschwimmt, wenn es keine Worte braucht um dich zu verstehen und von dir gehört zu werden, wenn dein Dasein alle meine Wunden heilt. Dann vergesse ich zuweilen, was uns trennt – jedoch einzig und allein, um mir ein wenig später die Nase anzuschlagen an der Wand aus Glas, die alledem zum Trotz noch immer steht. Die Kälte der Wand an meiner Stirn vertreibt die zarten Träume aus meinem Kopf und meinem Herz und weist mir den Weg zurück in die Realität.
Vergessen, ganz gleich ob gewollt oder nicht, ist gefährlich. Ich stelle mir vor, wie ich mit voller Wucht gegen das Glas laufe, in Gedanken versunken, Träumen nachjagend, sehnsüchtig nach deiner Nähe. Die Wand erzittert, gibt nach und zerspringt in tausende spitze, scharfe Waffen aus Glas. Du und ich, wir finden uns in einem Scherbenhaufen wieder, kaputt, tief verwundet, für ein Leben lang mit nimmer heilenden Narben übersät. Nein, ich möchte kein Monster aus dir machen, möchte dich nicht verletzten, kein Blut fließen sehen.
Was bleibt mir also anderes übrig, als mich langsam und bedacht der Glaswand in unserer Mitte zu nähern - behutsam und voller Sehnsucht berühre ich die glatte, kühle Fläche, ganz so als wäre es deine Haut. Doch diese gefühlslose gläserne Barriere ist kein Teil von dir, auch nicht von mir. Nicht wir haben sie erschaffen, diese gläserne Grenze, sie war schon vor uns da. Wir haben uns ihr nur genähert, von zwei verschiedenen Seiten aus sind wir auf sie zugelaufen, haben uns an einem Ort gefunden und sind dennoch für immer unerreichbar weit voneinander entfernt.
Hin und wieder jedoch gelingt es mir, mich von einem Glücksgefühl mitreißen zu lassen, denn die Wand aus Glas erlaubt mir, dich zu sehen, mich dir – wenn auch auf eine trügerische Weise – so nah zu fühlen. Es könnte schlimmer sein, sage ich mir, es könnte auch Beton sein oder Gips anstelle dieser gläsernen Grenze. Und dann weicht meine leichte Zuversicht und es überrollt mich eine Welle aus Wut und Unverständnis, denn was hat diese Wand zwischen uns überhaupt dort verloren?! Wer oder was gibt ihr das Recht, sich zwischen uns zu drängen und uns zu trennen, eisige Kälte zu streuen, gemeinsamen Träumen den Weg zu versperren. Und schließlich bleibt in mir nichts als Traurigkeit zurück, der ich so hilflos ausgesetzt bin und die mich verzweifeln lässt. Du und ich, wir sind getrennt von einer Wand aus Glas. Sie trennt zwei Menschen, die sich lieben und nicht lieben dürfen.
Ich habe mich in meine muslimische Kollegin verliebt. Und sie hat sich in mich verliebt, eine protestantisch getaufte Christin.
Wir sind so verschieden und ähneln uns doch in so Vielem. Manchmal sehen wir die Welt mit den gleichen Augen - unsere Religion jedoch ist keine gemeinsame. Und darum dürfen wir kein Paar sein – so steht es im Quran. Wir dürfen uns nicht küssen, uns nicht berühren, uns nicht körperlich nah sein.
Aber wann immer es geht, verbringen wir Zeit miteinander. Dann reden wir und lachen, wir bringen uns gegenseitig Deutsch und Arabisch bei und wir backen zusammen Lebkuchen und Baklawa. Wir lieben uns. Doch wir küssen uns nicht, berühren uns nicht, sind einander nicht körperlich nah.
In ihrer Gegenwart fühle ich mich vollständig, als würde sie mich ergänzen, als wären wir nur gemeinsam ganze Menschen. Und gleichzeitig ist immer etwas zwischen uns, das wir nicht sehen können, nur fühlen. Ich stelle mir vor, zwischen uns steht eine Wand aus Glas.