Eurochance
Irgendjemand muss ja großmütterlich an das abgekaute Sprichwort erinnern, welches besagt, dass in jeder Krise eine Chance steckt. Ein Essay.
Eurochance
Wo also sind die Grenzen Europas zu suchen? Der Sage nach an jenem Strand, an welchem einst der olympische Blitzzuleiter seine animalische Gestalt niederlegte und deren Wesen nachging. Aber das ist natürlich nur eine leere Erzählung, nicht einmal einen 10€-Schein wert. Daher wenden wir uns lieber der Realität zu: Man vernimmt zuweilen, Europa befände sich momentan in einer Krise, sei es nun bezüglich der Finanzen, der Wirtschaft, der Struktur oder gar des Vertrauens. Gibt es Evidenz für diesen flächenüberdeckenden Medienbrand?
Fest steht, das Vereinigte Königreich, seines Zeichens ein Herzstück der europäischen Idee, will scheinbar aus der Europäischen Union austreten. Island, seines Zeichens eher eine Extremität, aber dennoch europäisch, will scheinbar gar nicht erst beitreten. In Griechenland, der Gebärmutter der Demokratie, protestieren Massen gegen die Eurokratie unter Hitler-Merkel, während die Politiker sich bemühen, diese zu ignorieren. Zudem ist man am Fuße Europas, wo der Regierungsapparat zurzeit keinen - nun ja – eindeutigen Kurs verfolgt, sich bezüglich der Ausrichtung des Steuerrads nur in einem Punkt einig: Europa soll sich gefälligst raus halten. Zyperns leerer Magen hingegen kann momentan nicht genug Europa kriegen – aber lieber in Form von Banknoten an Stelle von Bankbenotungen. Ähnliche Wellen erregen momentan auch die Stimmbänder Spaniens, was dazu führt, dass manche Spanier eine eher geringschätzende Haltung gegenüber dem Brüsseler Königshaus entwickelt haben. Hinsichtlich dieser Vorfälle scheint die ungarische Lösung nahezu weit gedacht: man stellt sich einfach auf beiden Augen taub für Europa. Letztlich sitzen doch Franzosen, Deutsche, Niederländer, Luxemburger und Belgier am Kopf des Ganzen und verdienen viele Gelder mit ihrer Kolonialunion – oder müssen viele Gelder zahlen; so wirklich darüber sind sie sich nämlich nicht einmal selbst im Klaren.
Fazit: Den Bewohnern Kretas wird nicht langweilig. Bildlich gesprochen sind die Vorwürfe gegen die Europäische Union schwerwiegend. Sie ist nicht nur das Schiff, das dem Sturm nicht trotzen kann, sondern auch der Kapitän, der allein nur den Kurs bestimmt, ungeachtet dem was die Matrosen wollen, das Meer, in welchem die Fracht untergeht, das Seemonster, das das Schiff mit seinen Kraken auseinander reißt und irgendwie auch der Gott, welcher den Sturm heraufbeschworen hat. Aber fernab aller warmen Semmeln muss man ja nicht immer bildlich sprechen, sondern kann sich auch rationaler Kommunikationsmittel bedienen. In Worten ist die Europäische Union eine von Menschen verschiedener Nationen gegründete Organisation, um Menschen verschiedener Nationen zu organisieren.
Die Güter dieser Organisation sind neben Werten auch Waren, was dazu führt, dass nicht nur die Etablierung der Menschenrechte, sondern auch ein ausgewogenes Wirtschaftswachstum ganz oben auf der Speisekarte steht. Also müssen wir Wohl oder Übel über Wirtschaft reden. Da wären zum einem tüchtige Industrienationen. Großbritannien, Schweden, die Niederlande zum Beispiel. Ihnen ist es gelungen in der Nachkriegszeit eine doch recht ansehnliche Arbeitsstruktur und -moral auszubauen. Und dann gibt es Länder, in denen sind die Menschen an sich nicht dümmer oder fauler, aber ihr Wirtschaftspotenzial ist aufgrund von einem Staatsapparat in der Korruption, Unfreiheit, anderer Mentalität oder schlichtweg zu viel Sonneneinstrahlung nicht in der Lage eine ähnlich hohe Lage zu erreichen. Innerhalb der Union führte man schließlich eine gemeinsame Währung ein bzw. erleichterte den Kapitalfluss. Nun was braucht man im Kapitalismus, um Kapital aus dem Markt zu schlagen? Exakt: Kapital. Bildungskapital, finanzielles Kapital, Personalkapital, Machtkapital oder idealerweise eine gesunde Mischung. Dieses findet sich vornehmlich in den Reserven reicher Länder und kann, dank der erhöhten Liquidität, leichter in den Markt gepumpt werden, um Profit daraus zu schlagen. Auch die andern Mitgliedstaaten der EU haben natürlich erweiterte Möglichkeiten durch die Auflösung der Marktgrenzen, jedoch nicht dieselben Ressourcen und Motivationen, was dazu führt, dass neben der Vorteile, wie kostengünstigerer Importe und neuer Absatzmärkte, auch Wettbewerbsnachteile zu Tage treten. Wenn sich nun eine Branche, wie der Finanzsektor, übergibt, weil er sich übernommen hatte, dann hat das Land schlichtweg nicht dieselben Medikamente, wie beispielsweise Deutschland, sodass diese ebenfalls importiert werden müssen. Und damit sich daraus kein Teufelskreis entwickelt, optimalerweise Struktur reformierend oder gelegentlich umsonst. Das Image der interventionssüchtigen, geldverschlingenden EU wird sie so wohl leider nicht los.
Es scheint als würde Europa unter den hausgemachten Problemen ersticken: Dem asymmetrischen Wirtschaftssystem, den Abwehrreflexen auf Einmischung bei sämtlichen nationalen Themen, der Überforderung mancher Länder mit den Migrationsströmen sowie der Übermacht, mit welcher die Markt-, Meinungs- und Ländergrenzen gesprengt wurden.
Hm.... Zwischen West- und Ostdeutschland herrschen nach wie vor signifikante wirtschaftsstrukturelle Disparitäten, Bundesrecht steht über Landesrecht und jeder hat das Recht auf Freizügigkeit. Folgen wir der Logik der antieuropäischen Wanderprediger, müssten sämtliche Länder aus dem Bund austreten. Aber sie lässt sich noch weiter verfolgen: Warum sollten nicht sämtliche Bezirke aus ihrem Land, sämtliche Landkreise aus dem Bezirk, sämtliche Gemeinden aus dem Landkreis und sämtliche Familien aus der Gemeinde verschwinden? Ach und das Gehirn verbraucht mehr Sauerstoff als die Exkremente, der Magen trägt zum Blutfluss viel weniger bei als das Herz, welches sich für alle abschindet. Die Augen sind wesentlich aufnahmewilliger als die Stimmbänder, aber nur die Gebärmutter hat eigentlich Zukunft. Ja warum zum Teufel sollten sich die Organe zu einem Organismus organisieren? Die zweifelsohne optimale Lösung ist, wenn alle Lebewesen Einzeller wären, dann könnte jeder sich um seinen Kram kümmern. Die Probleme würden sich in Grenzen halten.
Natürlich lässt es sich als Steinzeitmensch einfacher leben, aber eigentlich dachte ich unser Ziel sei das Miteinander, indem jedes Leben lebenswert ist, jene uralte Utopie, deren Unerreichbarkeit unserer Existenz immer einen Sinn anbieten wird.
Natürlich haben wir mehr Geld, wenn wir es behalten, aber bitte verabschiedet euch von der Illusion, wir hätten es durchschnittlich mehr verdient. Natürlich gibt es tief verankertes, traditionelles Nationalbewusstsein, aber dieses wurde für eine Zeit geschaffen. Manchmal verfallen Vorstellungen. Wären unsere Ahnen nicht stolz auf uns, würden wir das Nötige tun, um die Welt ein Stück lebensfreundlicher zu machen?
Statt ständig alten Stäubern nach zu weinen, statt Geldern einen Wert zuzuweisen, der über Wohlergehen für alle hinausgeht, statt Panik vor dem Grenzenlosen zu verspüren, lasst uns doch - Hand in Hand – die letzte große Grenze Europas überwinden: Die Mauer in den Köpfen, die strikte Teilung der Nationalitäten, die kulturelle Grenze. Wir sind eine Spezies. Wir müssen Nationaldenken in den Hintergrund stellen. Wir müssen dieselbe Sprache sprechen. Warum auch eine weitere vollkommen überflüssige, jedoch mächtige Barriere schaffen? „Fremd“ muss zum Archaismus des Europas unserer Zeit werden. Wir müssen eine gemeinsame Kultur schaffen.
Diese Forderungen mögen radikal erscheinen, aber ihnen gegenüber steht die Trägheit der Instinktfalle, deren gewohnte Gemütlichkeit jeden Funken Aktivierungsenergie verschlingt wie flüssiger Stickstoff. Vielleicht gelingt es der Demokratie die Grenze unseres Horizontes in dieser Richtung zu erweitern. Nicht nur um gemeinsam stark, sondern vor allem um stark gemeinsam zu sein. Gemeinsame Ziele müssen nämlich im Moment noch zusätzlich leisten, was der Europäische Union im Vergleich zu anderen Identitätsgemeinschaften fehlt: eine Geschichte. Doch diese Geschichte könnte bald geschrieben werden. Denn darin liegt die große Chance der aktuellen Unwetterlage. In 10, 15 Jahren wird man von der heutigen Zeit entweder als dem Beginn des Kollaps vieler ex-€uropäischer Länder, des europäischen Intrakontinentaldrifts und der größten Niederlage humanistischer Werte oder der europäischen Varusschlacht, dem langwierigen Sejm, der in dem Beschluss endete die Bastille des Geldes zu stürmen. Es liegt in unserer Hand, ob wir von der Übermacht unserer Sturheit und Gier vergewaltigt am Strande eines unbekannten Landes liegen wollen und uns darüber freuen können, wenn die Grenzen Europas überhaupt dessen Küste erreichen, oder ob wir die Kraft finden uns aufzuraffen und unter dem Banner der Solidarität und Leistungsbereitschaft ein Europa für uns beanspruchen, dessen Vorbildfunktion und Menschlichkeit keine Grenze dieser Welt Einhalt gebieten kann. Krisen werden immer Chancen bergen. Aber Chancen müssen erst genutzt werden.
©arl Wanninger