"Das ist Walter!"
Eine Reise in die bosnische Multikulti-Hauptstadt Sarajevo ist mehr als nur ein normaler Städtetrip. Blüte des osmanischen Reiches, Mord an Franz Ferdinand, grausamer Inbegriff des Jugoslawienkrieges - an kaum einem anderen Ort in Europa verschmelzen Vergangenheit und Gegenwart so wie hier. Bericht über die Rückkehr in meine neue zweite Heimat, die sich so gar nicht mit anderen Städten vergleichen lässt.
Wie soll ich am treffendsten das Gefühl beschreiben, wieder zurück an jenem Ort zu sein, in welchem sich die aufregendsten zwölf Monate meines noch so kurzen Lebens abspielten? Zurück an dem Ort, mit welchem ich doch noch so viel verbinde? Fragen über Fragen strömen mir durch den Kopf, über allem liegt jedoch der einzigartige Charme Sarajevos, dem sich schon etliche Besucher vor mir nur schwer entziehen konnten. Zurück in Sarajevo sitze ich also gleich am ersten Abend auf den alten Mauern der žuta tabija, hoch über der schon in die abendliche Dunkelheit geschlungenen Altstadt gelegen, ist die gelbe Bastion mein Lieblingsplatz geblieben. Am fernen Horizont, wo die gewaltige Bergkulisse des Bjelašnica und Igman wie die Wächter über der Stadt thront, zucken gefährlich die ersten Blitze und tauchen die bewaldeten Berghänge in ein grelles Licht. Vom sich ankündigenden Gewitter aber ist in den schmalen Gassen der muslimischen Altstadt noch nichts zu spüren; die Geräusche lachender Cafébesucher, das Hämmern der traditionellen Kupferschmiede in den winzigen Werkstätten rufen altbekannte Erinnerungen und Sehnsucht nach der orientalischen Ferne hervor.
Pünktlich gegen 18 Uhr beginnt sich der schallende Ruf des Muezzins von den unzähligen Minaretten über das Stadtgebiet auszubreiten, jenes für uns Westeuropäer mystisch anmutende yatsi (das muslimische Nachtgebet) durchbricht die Stille jahrhundertealter Straßenecken und steigt entlang der steilen Straßen auch zur žuta tabija empor. Nach und nach vermischen sich die Gebetsrufe zu einem einzigen melodischen Klang, angesichts der rund 200 Moscheen, die sich über das ganze Meer an Dächern erstrecken, ist das auch alles andere denn ein Wunder. So wandert nun mein Blick von den umgebenden Berggipfeln hinunter ins Tal, wo die nächtlichen Lichter das dichte Straßennetz von Sarajevo aufleuchten lassen, schweifen meine Augen über die dicht aneinander gebauten Häuser, welche wie strahlende Sterne am dunklen Nachthimmel an steilen Berghängen optisch hervorstechen. Woher kommt dieses Gefühl der inneren Freiheit und Verbundenheit? Gewiss ist Sarajevo keine Stadt wie jede andere, nicht wie das angesagte Belgrad, auch nicht wie das erhabene Zagreb, schon gar nicht wie die von Touristen eingenommenen Metropolen, von denen es in Westeuropa doch eine Vielzahl gibt. Jedes der mir in diesem Moment zu Füßen liegenden Gebäuden, von Witterung und Krieg bearbeitete Schichtung lebendiger Steine, erzählt seine eigene Geschichte und lässt sich zu einem Mosaik aus verschiedensten persönlichen, ergreifenden sowie weltbewegenden Geschichten zusammenfügen.
Ein besonders großes Stückchen in diesem Gebilde nimmt die stolz und erhaben von Lichtern angestrahlte Vijećnica als natürliche Abgrenzung der verwinkelten Altstadt ein, gleich einem leuchtenden Edelstein maurischer Architektur verkörpert die heutige Nationalbibliothek an den Ufern der Miljacka wie kein zweites Bauwerk den Stolz und die Trauer Sarajevos. Flammen fraßen sich zornig durch die uralte Büchersammlung, verwandelten mehr als zwei Millionen Exemplare von unschätzbarem Wert in glühende Asche, als vor 27 Jahren der Traum einer multireligiösen Koexistenz unter den Granaten serbischer Aggressoren zerbrach. Folgt der Blick nun dem ruhigen Verlauf der Miljacka, die Altstadt in westlicher Richtung abgrenzend, durchbrechen in sichtbarer Entfernung gläserne Fassaden den schier undurchdringlichen Dschungel an Häuserdächern. Sie sind Zeuge eines neuen Aufbruchs, den nicht nur die Stadt, sondern viel mehr der gesamte bosnische Staat nach den Kriegswirren der 1990er Jahre auf unsicheren Beinen vorantreibt.
Eisig treibt der kalte Novemberwind aus den Bergen kommend nun auch die letzten Fußgänger von den Straßen in die wohl temperierten Caféhäuser und bosnisch-traditionellen Gaststuben; ohne jeglichen Zweifel lege ich immer noch meine Hand ins Feuer, die Uhren ticken zwischen den osmanischen Wandteppichen und Gerüchen gebratenem Ćevapi-Fleisches nicht im selben Takt wie dem eines europäischen Modells! Bedrohlich nähern sich langsam auch im Schutz der Finsternis jene, von der abendlichen Brise vorwärts getriebenen Regenwolken in Richtung Stadtzentrum. Bevor die schweren Regentropfen über der gelben Bastion hereinbrechen sollten, bahne ich mir schon den Rückweg entlang der windgeschützten Gassen in Richtung unseres Hostels. Ob es wohl morgen auch noch regnen wird?
Warum das Kaffeetrinken und Sarajevo unzertrennlich sind
Ihr Gesicht ist überaus freundlich, auch wenn sie sich zugleich keineswegs bemüht, die aus ihren Augen funkelnde Überraschung zu vertuschen. Vielleicht bin aber auch nur ich der Überraschte, so wie mich in dem Moment meiner Rückkehr auch eine Sinnflut an Erinnerungsfetzen überkommt. Wie ich schon bereits früher die Gewohnheit pflegte, unsere Gäste und Freunde in Sarajevo am Ende jeder Stadtbesichtigung ins Džirlo zu entführen, sitze ich unverändert im Inneren des kleinen Hauses, warte auf meinen bosnischen Kaffee, beobachte das morgendliche Treiben vor den großen Fensterscheiben, die Straße den Berg hinunter bis sich mein Blick im unübersichtlichen Durcheinander von Touristen und Einheimischen verliert. "Wie geht es deinen Großeltern? Zwei wirklich liebevolle Menschen, wirklich!", durchbricht die aufgeschlossene Stimme der Hausbesitzerin meinen halbverschlafenen Zustand, immer noch von stark überraschtem Charakter ob meiner unerwartet-spontanen Rückkehr bringt sie mir den bosnischen Kaffee entgegen und durchlöchert mich mit Fragen über Familie, mein neues Leben in Tirana, die Sehnsucht nach Sarajevo.
Für jemanden, der zum ersten Mal die Türschwelle zu Džirlo's Teehaus überquert, mag sich eine fremde Welt voller fremdartiger Gerüche und einzigartigem Flairs eröffnen, die der Besucher wohl eher in den aufgeregten Basaren des Nahen Ostens vermutet hätte. Mit diesem kleinen Café, von außen unscheinbar in einem windschiefen Häusschen aus vergilbtem Holz untergebracht, mutig an die sich steil nach oben ziehende, mit Kopfsteinpflaster gesäumte Straße geheftet, verbinde ich weit mehr als nur Erinnerungen. So führten mich meine Gedanken zurück in jene bitterkalten Wintertage, als draußen der eisige Wind aus den Stadtbergen über Sarajevo herfiel und Schneemassen mit vorantrieb, die sich lawinenartig über die geduckten hölzernen Dächer der muslimischen Altstadt Baščaršia legten und wir bei hauseigenem Tee Zuflucht vor der mörderischen Kälte suchten. Oder im kochenden Sommer, wenn bei unerträglichen Temperaturen jenseits der 40 Grad Celsius der harte Kampf um die begehrten Plätze im Schatten begann.
Der Besucher von außerhalb, einem alten Sprichwort der Einheimischen folgend, war nie wirklich in Sarajevo, wenn er sich nicht wenigstens ein einziges Mal die Zeit und Ruhe genommen hat, um den bosnischen Kaffee zu probieren. Dabei sind die Fragen "wo und wann trinke ich meinen bosanska kafa" weniger von Bedeutung, als die spezielle Wissenschaft, wie ich denn eigentlich meinen Kaffee zu trinken habe. Der heiße Dampf steigt aus der kupfernen džezva (mit Ornamenten reich verzierte Mokkakannen sind das begehrteste Mitbringsel) und verbreitet den charakteristischen Geruch gekochten Kaffees unter den alten Holzbalken. Man trinkt den Kaffee stets ohne Milch, um das einzigartige Aroma nicht zu verfälschen, dafür aber umso mehr mit Zucker, wahlweise auch serviert mit kleinen Stückchen des süßen türkischen Rosenhonigs sowie einem Glas šerbe; letzteres aus einer Vielzahl an Blütenblättern gewonnene Getränk fand bereits während der osmanischen Herrschaft seinen Weg nach Sarajevo. Ursprünglich wurde es von saudi-arabischen Muslimen als Genussmittel konsumiert, mit šerbe wird auch heute noch im Ramadan das tägliche Fasten gebrochen.
Seitdem die ersten Kaffeebohnen ihren Weg vom äthiopischen Hochland über Persien und Arabien auf den Balkan fanden, bestimmen sie schon seit Jahrhunderten den Tagesrythmus und Verständnis der Menschen, wie die freien Minuten bestens genutzt werden sollten. Dabei sind den Bosniern jene von uns Westeuropäern hastig auf dem Arbeitsweg getrunkenen Coffee-to-go`s genauso fremd wie die überzuckerten Cappuccinos von Starbucks und Co. Erst kürzlich erklärte die renommierte 'New York Times' daher die bosnische Tradition des Kaffeetrinkens in Sarajevo zu einer der zwölf größten europäischen Schätze, neben der Schokolade aus Brüssel oder der Berliner Straßenkunst. Gerade in den frühen Morgenstunden, bevor sich die langen Stunden der Arbeit über den Tag ziehen, und zur Mittagszeit füllen sich die zahllosen kleinen Caféstuben der Altstadt; dann zieht der Duft des gebrühten Kaffees zwischen den Türen umher und mahnt, dass die Zeit für eine Pause samt Kaffeegenuss wieder gekommen ist. In Sarajevo eröffnete nicht ohne Grund das erste Kaffeehaus Südosteuropas im 16. Jahrhundert seine Pforten; noch bevor sich die heute stark ausgeprägte Kaffeekultur in Wien oder Paris entwickelte, bildete das Rösten und Stampfen der Kaffeebohnen bereits das soziale Rückgrat der bosnischen Gesellschaft. Die ganze Vergötterung der Bosnier gegenüber der kleinen schwarzen Kaffeebohne beschreibt das ARD Studio Südosteuropa in treffendsten Worten:
"Kaffeetrinken ist hier keine hastige Koffein-Einnahme wie ein Espresso (...) Kaffeetrinken ist in Bosnien-Herzegowina ein Ritual. Der Kaffee wird unbedingt sitzend getrunken - aus kleinen Tassen. Man muss sich Zeit für sich oder noch besser für sich und für die anderen nehmen. Man genießt nicht nur die schwarze Flüssigkeit, sondern das Gespräch, das Beisammensein und eine gewisse Leichtigkeit des Lebens. Die bitteren Sorgen des Alltags, die Unbarmherzigkeit des Schicksals verschwinden nicht plötzlich, sondern werden erträglich, manchmal sogar annehmbar, wenn man sie mit anderen teilt."
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