zwölf Monate Wellengang.
Ein Versuch, Lissabon und mein Leben dort, mit Wörtern einzufangen. Fragmente aus meiner Erinnerung, die sich um dreierlei spannen: Menschen, Sprache und Cafés. Kleine Momente und flüchtige Stimmungen, die sich am Schluss zu einem Gedanken verdichten, na verdade nao quero voltar, eigentlich will ich nie mehr heim.
Dass Portugiesisch so klingt, als würden Fische sprechen, mit fast geschlossenen Lippen und einer weichen Zunge, ein melancholischer Singsang, saudades, nach so vielem haben die Portugiesen Sehnsucht, wonach genau, das haben sie vergessen. Nur die alten Frauen in Schwarz, die an Februarnachmittagen ihr Ledergesicht gegen die Sonne halten, wissen noch davon.
Ich belausche zwei Damen im Café, mais o menos, sagt die eine, mehr oder weniger, mais um café, fragt mich der Kellner, mais o menos, sage ich, er schüttelt den Kopf und dreht sein Tablett durch die Finger, mais, sage ich und er blickt verwirrt. Hier trinkt man den Kaffee schwarz, klein und um fünfzig Cent, von dem Platz mit den runden Eisentischen habe ich einen miradouro, einen goldener Blick über die Alfama, den ältesten Teil Lissabons, wo sich die Mauern der Häuser aneinanderlehnen wie seekranke Hippies. Die Wäsche hängt quer über den Gassen, eine blaue Unterhose, eine weiße Unterhose, zwei Socken, und niemand kümmert sich um die Katzen.
Uma menina complicada, heißt es, ein schwieriges Mädchen. Kira hat dunkles Kraushaar, durch das ich erst jetzt streichen darf, nach zwei Monaten, und mehreren Kieferabdrücken auf meinen Unterarmen. Kira, vor der am Schulhof die Jungen aus Ehrfurcht in den Schatten der Klematis treten, weil sie in ihren Pumaschuhen Kreise zieht bis es läutet. Nao grites, schrei nicht. Manchmal beruhigt sie sich nicht mehr und schlägt um sich, bis sogar die um die Hüfte gebundene Jacke sich von ihr löst. Para ja. Hör auf oder Schluss jetzt. Ich kann nicht mit ihr reden, weil mir die Wörter noch fremder sind als sie, ich sage nur Kira Kira Kira, und stelle mir vor, wie es ihre Mutter sagen könnte. Irgendwann ist mir ihr Name vertraut. Nao tenho mae. Ich habe keine Mutter, sagt sie mir, und ich bin überfordert. Sie ruft mich Tete, hart und kurz, die zwei Silben nur zwei Luftstöße, nicht sehr liebevoll, aber ich bin zufrieden.
In einem winzigen Zimmer stehen zwei Betten, meins und das von Marta, die Italienerin aus meinem Projekt. Wir sind uns ähnlich geworden mit der Zeit, anscheinend, denn in der Schule fragen uns die Kinder vocês sao irmas? ob wir Schwestern sind. Nach der Mittagspause gehen wir jeden Tag in die Bar auf der anderen Straßenseite und trinken uma bica, es gibt so viele Worte für Kaffee. Die zwei Herren hinter der Theke sind Brüder, sie kennen Marta und mich, jede Woche kann ich ihnen mehr erzählen, mein Gehirn formt Sätze, bravo senhora, rufen die beiden.
Draußen auf einem Treppenabsatz neben der Bar sitzen wir noch kurz in der Sonne und stecken eine Zigarette in unseren Mund. Kira weiß wo wir sind und setzt sich zu uns, posso, fragt sie, und zeigt auf den Tabaksbeutel, nao podes, sagt Marta und schnalzt mit der Zunge. Kira gibt sich zufrieden, bei uns ist sie ein Lamm.
Die gelben Straßenbahnen stürzen sich von einem Tal ins nächste und in ihrem Inneren fallen die Menschen durcheinander, cuidado, Vorsicht, hinter mir verliert eine alte Frau den Boden, sie quietscht wie die Straßenbahn, aber kürzer und leiser, ihr Rock ist über die Knie gerutscht, man hilft ihr auf, ein Haufen Shrimps liegt verteilt unter den Sitzen, im ganzen Wagen riecht es danach. Porra! Zwei Fahrgäste raunzen über die wilden Straßenbahnfahrer, eine Dame mit Kind nickt zustimmend, von hinten mischt sich eine Stimme ein, alle reden mit, sao locus, das sind Verrückte, man ist sich einig und steigt zufrieden bei der nächsten Station aus.
Caracois, Portugiesische Schnecken, sind gekocht und liegen in einem feinen Saft aus Fischbrühe, Knoblauch und Rosmarin. Der Anflug von Ekel in meinem Gesicht als ich das erste Mal probierte, que nojo, wie widerlich, und das belustigte Gesicht von zwei Freunden. Jetzt ziehe ich die würzigen Körper gierig mit einem Zahnstocher aus ihrem dem Haus, para toda a gente, für alle Leute. Schnecken sind keine Delikatesse, ein Teller für drei Euro. Dazu Bier und Sonne, auf dem Platz mit den runden Eisentischen. Von Weitem sehe ich Max wie er die Gasse in meine Richtung entlangkommt, ein Franzose oder ein Pirat, er verdient sein Geld auf der Straße als lebende Statue, oder wirft Seifenblasen für Kinder, manchmal kommt er mit in die Schule, die Kleinsten fragen ihn donde deixaste o teu barco? wo er sein Schiff gelassen hätte.
Die Weltmeisterschaft auf eine riesige Leinwand projiziert, und davor viel junges Europa auf dem Boden sitzend, zwischen geöffneten Bierflaschen, die dem warmen Pflasterstein nasse Kreise aufdrücken. Die Spanier haben bunte Wangen obwohl heute niemand für sie spielt, ich singe mit Marta im Chor yo soy espanol espanol espanolobwohl wir keine Spanierinnen sind, aber das weiß niemand. Hinter uns stehen drei Franzosen auf und schwenken eine Fahne, sie binden sie einer hübschen Frau um den Hals, Marta findet, sie sieht schwedisch aus, aber wir fragen sie. No, I am from Kopenhagen.
Todo o mesmo, alles das gleiche, Marta unterteilt Europa in Nord und Süd. Irgendwer schüttet mir Bier in den Kragen, es ist kein Engländer. Ich weiß nicht welche Manschaft welche Farbe trägt und es ist zu spät um zu fragen, Menschen fallen sich in die Arme, auf der Leinwand und davor. Hinter den Häusern rund um den Hauptplatz geht die Sonne unter, neben mir höre ich jemanden sagen, I am just here for the atmosphere.
Die Kinder sehen mich ernst an und zeigen auf meinen Arm, sagen braco, dann auf meine Augen, olhos, das u sprechen sie aus wie ein o und ich versuche es ihnen gleich zu tun. Ja sabes muitas palavras, du kennst schon viele Wörter, die meisten habe ich von ihnen gelernt. Sie freuen sich, wenn ich mich irre und den Finger mit der Nase verwechsle, dann funkeln ihre Augen und sie werfen den Kopf hin und her, nao es assim, das stimmt nicht, manchmal irre ich mich mit Absicht, das macht ihnen Spaß.
Lissabon im November, und ich zähle die kaputten Regenschirme die in den Mülleimern stecken. Mit dem Zug fahre ich einige Kilometer an der Küste entlang und steige in einem kleinen Vorort aus, die Strandpromenade ist überflutet, nie habe ich höhere Wellen gesehen, sie klatschen an den Beton und ergießen sich über den Steinweg, die Gischt spritzt drei Meter hoch. Es wird schnell dunkel, von weitem erahne ich die Lichtglocke der Stadt. Ich setze mich in das einzige Café, das ich finde, durch eine Glaswand sieht man aufs offene Meer, o que deseja, was wünschen Sie, die Kellner tragen Anzug und Fliege, ich bestelle Tee und Kuchen und bleibe fünf Stunden mit einem portugiesischen Gedichteband, com licenca, mit Verlaub, mein Kellner lächelt hinter seinem Bart, é portuguesa?, ich verneine, und sage ihm woher ich komme. Ich bekomme ein Stück Kuchen geschenkt.
Lissabon im August des darauffolgenden Jahres, in den engen Gassen der Alfama hat man Planschbecken vor den Hauseingängen aufgestellt, darin haben sich ganze Großfamilien zum Baden gesammelt, die alten Frauen regungslos mit geblähten Bäuchen und die Kinder braungebrannt und aufgeregt. Belustigt steige ich an dem privaten Vergnügen vorbei, manchmal schafft es ein kühler Luftzug aus einem der Vorräume ins Freie, dann spähe ich kurz ins Innere. Gassen sind für Portugiesen wie eine erweiterte Terrasse, oder ein Innenhof. Ein Mädchen läuft gegen meine Beine, und saust dann weiter, nao me apanhas, du erwischt mich nicht, ein Bub stolpert hintendrein. Ich notiere mir, Lisboa é um patio immenso, Lissabon ist ein riesiger Innenhof.
Max zeigt mir ein Graffiti in seinem Viertel, in türkiser Schrift mit dunkelblauen Ornamenten, da steht a vida nao é para ser vista, é para ser vivida, das Leben ist nicht da, um es zu betrachten, sondern um es zu leben, ich klopfe mit meinen Fingerknöchel auf die bunten Buchstaben, dann lehnen wir uns mit dem Rücken an die Mauer, gehen in die Hocke und blinzeln in die späte Sonne.
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