Wenn die Familie beisammen ist, ist die Seele auf ihrem Platz.
Die ersten vier Wochen meines Europäischen Freiwilligendienst lebte ich in einer aserbaidschanischen Gastfamilie. Und auch wenn ich jetzt in meiner eigenen Unterkunft wohne, bleibt mir meine Gastfamilie doch im Herzen.
'Meine Familie' hier ist anders. Sie essen anderes Essen, sie leben nach anderen Gewohnheiten, sie sprechen eine andere Sprache. Aber sie haben mich in ihr Herz geschlossen. Wie ich sie.
Wenn ich Hunger habe, soll ich zum Essen kommen. Wenn mir langweilig ist, soll ich zum Essen kommen. Wenn ich geschafft von der Arbeit komme, nachdem ich mich durch den öffentlichen Nahverkehr gekämpft habe, soll ich zum Essen kommen. Und nun, da ich aus- und in mein eigenes kleines Häuschen gezogen bin, soll ich immer wieder vorbei kommen. Zum Tee trinken. Und falls ich Wäsche waschen will, Internet brauche oder einfach nur Gesellschaft haben möchte, soll ich natürlich auch vorbei kommen. Das beudetet wahrscheinlich, dass ich zum Essen vorbeikommen soll, denn davon gibt es immer reichlich.
Die letzten vier Wochen war meine Gastfamilie mein Auffanglager. Meine erste Station auf dem Weg der Eingewöhnung. Und – ganz ehrlich gesagt – hatte ich vor meiner Ankunft in Aserbaidschan etwas Angst vor dem Leben in der Gastfamilie. (Nun, Angst ist vielleicht ein starkes Wort, aber Bammel klingt so doof und ein anderes Wort, um meine Gefühle zu beschreiben, fällt mir nicht ein.) Und das lag nicht an der Familie, die ich bis dahin noch gar nicht kannte. Vielmehr was es eine Mischung aus der Tatsache, dass ich schon lange nicht mehr so eng mit einer Familie zusammen gelebt habe. Und zum anderen machten mir die Genderunterschiede, von denen ich vor meiner Ankunft schon gehört habe, Sorgen. Wie würde meine Gastfamilie reagieren, wenn ich nach acht nach Hause komme? (Als gutes aserbaidschanisches Mädchen sollte frau vor 20 Uhr zu Hause sein. Und nur, um das ganz klar zu formulieren: Das gilt nur für die Mädchen und Frauen.) Und überhaupt: Wie kann ich mich an ihren Rhythmus anpassen, ohne dass ich mich vollkommen verstellen muss oder sie ständig vor den Kopf stoße?
Und dann traf ich auf meine Gastmutter. Eine liebenswerte Person, die ständig auf Russisch auf mich einredete, obwohl ich ihr versucht habe zu erklären, dass ich eher Aserbaidschanisch verstehen könnte (da viele Wörter dem Türkischen ähnlich sind). Und doch kommunizierten wir vier Wochen in Englisch-Russisch-Aserbaidschanisch-Türkisch. Und schufen uns damit eine eigene Sprache, in der wir fast immer irgendwie zu einem Ergebnis kamen. Nebenbei lernte ich ein paar Wörter Russisch und Aserbaidschanisch, während meine Gastmutter ihre englische Aussprache etwas verbessern konnte. Und alles endete damit, dass meine Mama mit meiner Gastmutter per Skype auf Russisch redete, während ich mein Abendessen zu mir nahm und nichts verstand. Meine Gastmutter, hingegen, hegt weiterhin Unverständnis darüber, dass ich kein Russisch spreche, wenn meine Mutter es doch kann. Und unterrichtet hat. Mit der Aussage, dass ich Französisch gelernt habe, weil ich in der Schule wählen musste, konnte ich sie auch nur kurzzeitig besänftigen.
Und falls unsere Kommunikation bestehend aus dem Sprachenwirrwarr, den wir täglich benutzten, doch einmal nicht erfolgreich verlief, konnte ich mich auf meine Gastschwester verlassen. Ihr Englisch ist großartig und wenn meine Sprachgrenzen im Aserbaidschanischen erreicht waren (also so nach 30 Sekunden), war sie zur Stelle, um zu übersetzen. Nur nicht, als ihr Papa mit mir über Gorbatschow und die Wende sprechen wollte. Da verstummte sie ganz schnell. Auch meine Beteuerung, dass ich sehr gerne mit ihrem Vater über Geschichte allgemein und den Zusammenbruch der Sowjetunion im Besonderen sprechen würde, weil ich das ja sozusagen als Beruf habe, führten nicht weiter. Sie schüttelte den Kopf und die Unterhaltung zwischen mir und meinem Gastvater, die sowieso nur mittels Übersetzung stattfinden konnte, da er nur Russisch kann und ich, das möchte ich hier gerne nochmal betonen, keinerlei Russischqualifikationen mitbringe, war damit beendet. Aber dafür habe ich mein 'männliches' Können unter Beweis gestellt, als ich mit meinem Gastvater eines schönen Tages (ein islamischer Feiertag) Wodka getrunken und Backgammon gespielt habe. Beides wird in Aserbaidschan traditionell nur von Männern getan. Beim Wodkatrinken bin ich auch kläglich gescheitert, aber meine Backgammonkünste, die dringend aufgefrischt werden müssten, sorgten für ein anerkennendes Nicken bei meinem Gastvater.
Und nicht nur beim Backgammon spielen und Wodka trinken zeigte meine Gastfamilie viel Verständnis für ihren ausländischen Gast. Auch mein gelegentliches spätes nach Hause kommen wurde nur mit einer besorgten Frage, wie ich denn nach Hause gekommen sei, begleitet. Keine Vorwürfe, kein 'Das geht in Aserbaidschan aber nicht'. Einfach nur Freundlichkeit, Gastfreundschaft und Verständnis. Und nun, da ich nicht mehr bei ihnen wohne, vermisse ich die abendlichen Unterhaltungen mit meiner Gastschwester in der Küche. Mit Saft und viel Lachen. Fast jeden Tag kam ich nach Hause und konnte sie fragen, ob das-und-das, was ich tagsüber gesehen oder erlebt habe, etwas typisch Aserbaidschanisches oder ein spezieller Fall war. Sie wurde nicht müde, mir meine Fragen zur aserbaidschanischen Kultur zu erklären. Jede auch noch so kleine Kleinigkeit wurde lang und breit besprochen und ich kann gar nicht in Worte fassen, wie viel ich in diesen vier Wochen gelernt habe. Über aserbaidschanische Kultur, Essen und Genderunterschiede. (Ja, dazu kommt auf jeden Fall noch ein Blogeintrag... oder sogar mehr als einer. Nur Geduld.) Diese vier Wochen haben mir so viel Verständnis und Wissen gegeben, dass ich es nicht beschreiben kann. Ich kann nur nach und nach mein Wissen in weitere Artikel verteilen. Und in der Zwischenzeit versuche ich, etwas Zeit zu finden, um dass, was ich erlebt und gehört habe, zu reflektieren, um es in Worte zu fassen. Denn davon habe ich gerade immer noch zu wenig: Zeit zum Reflektieren. Inne halten. Einfach mal sagen: 'Warte mal kurz, ich muss kurz mal durchatmen.' Bisher rinnt die Zeit durch meine Finger und ich würde gerne jeden kleinen Moment festhalten und für immer speichern. Aber ich weiß, dass ich einerseits einfach nur etwas Geduld haben muss, denn der Alltag kommt bestimmt. Und andererseits kann ich nicht jeden Moment für immer festhalten. Es ist die Summer der Momente, die dieses Abenteuer zu dem machen, was es ist.