Marshutkas – preiswerte Kulturschocks mit Charme
Reisen nicht nur von A nach B, sondern in der georgischen Kultur
„Tyi maja lubyimaja, tyi maja krassawiza“ tönt es ohrenbetäubend hinter mir aus dem knisternden Lautsprecher, während wir elegant um die Schlaglöcher kurven, Zebrastreifen grundsätzlich ohne anzuhalten überfahren und dabei auch gelegentlich Haken um vereinzelte Kühe und Schweine schlagen. Das Sonnenlicht bricht sich in der gesprungenen Windschutzscheibe vor der ein hölzernes orthodoxes Kreuz schwankend an einem dünnen Faden baumelt. Neben mir eine Frau mit mehr Falten im Gesicht als der Kaukasus, deren sonnengebräunte Hände eine zerrissene Tasche voller Siebe umklammern. Zwei Kinderaugen schauen mich zwischen den Sitzen vor mir groß an, ehe sie auf mein Lächeln hin scheu verschwinden. Ein junger Mann schläft ungeachtet des rüttelnden Fahrzeugs mit dem Kopf an die Scheibe gelehnt, ein Mädchen versucht die russischen Klänge mit ihrem IPod zu übertönen und richtet ihre Kopfhörer. Draußen eine grüne Weite. Wo bin ich?
Es scheint, dass das Marshutka-fahren eine der ursprünglichsten Möglichkeiten ist um in die Kultur des Landes, welches ich mir für meinen Europäischen Freiwilligendienst ausgesucht habe, einzutauchen. Die alten, teilweise noch mit deutschen oder holländischen Firmenlogos beklebten Kleinbusse fahren überall auf Georgiens Straßen. Innerhalb Tbilisis modern in Gelb für 80 Tetri (etwa 30 cent) – ansonsten alt und klapprig für verhältnismäßig wenige Lari in die Berge, zum Meer, in Dörfer und Städte.
Das Wort Marshrutka leitet sich von dem deutschen Wort Marschroute ab – hier wird aber auch gerne das zweite r weggelassen: Marshutka – die billigste Form des Reisens in osteuropäischen Ländern. Das Routensystem oder gar die Abfahrtzeiten sind für Fremde kaum nachzuvollziehen. Innerhalb der Städte gibt es Marshutkas mit Nummern, die gewisse Routen abfahren. Ist man des Georgischen oder Russischen nicht mächtig, so findet man nur heraus ob man zum Ziel kommt wenn man es ausprobiert. Entweder man kommt an – oder man lernt eben eine noch unbekannte Gegend der Stadt oder das Nachbardorf kennen. Es gibt keine Haltestellen – möchte man einsteigen, so winkt man das Auto energisch zum Straßenrand und ergattert entweder einen Sitzplatz, klappt zusätzliche Sitze im Mittelgang aus, nutzt einen dazugestellten Plastikhocker, sitzt auf dem Boden oder steht in den ländlichen Regionen auch mal im Gang und versucht schwankend das Gleichgewicht zu halten. Anschnallen ist nur in der ersten Reihe Pflicht. Besonders sicher ist diese Form des Transports – vor allem angesichts des rasanten Fahrstils der meisten Marshutkabesitzer – bei weitem nicht.
Für eine Fahrt über Land empfiehlt es sich, den Namen des Ziels in georgischen Buchstaben zu kennen. Hinter der Scheibe der Marshutka steckt ein Pappschild mit georgischen Lettern. Andererseits kommt einem hier auch die erstaunliche Gabe der Georgier, Touristen zu erkennen, ganz gelegen. Trägt man einen großen Rucksack oder schaut einfach nur leicht verwirrt in die Gegend wird man ohnehin sofort angesprochen: „Kutaisi? Batumi? Tbilisi?“ – eine endlose Kette von Städtenamen. Nach einem Nicken wird man gerne auch zur Marshutka beziehungsweise zum Ticketschalter begleitet. Es kann einem als Alleinreisende auch passieren, dass einem der Koordinator des Bahnhofs einen Kaffee ausgibt oder einen kleinen Schnack auf Russisch, Georgisch und Zeichensprache mit dir hält, während auf die Marshutka gewartet wird. Abfahrtszeiten sind grobe Richtlinien und lassen sich an Bahnhöfen in Tabellen neben dem Ticketschalter finden. Eigentlich fährt die Marshutka aber nur ab, wenn sie einigermaßen voll ist. Genau so verhält es sich mit Ankunftszeiten – hat man eine Panne oder ist die Straße mal wieder einseitig gesperrt, kann es viel länger dauern bis entweder Hilfe kommt, eine andere Marshutka die gestrandeten Reisenden einsammelt oder die Straße wieder frei wird. Dauert der Stau länger, verlässt man die Marshutka im Nirgendwo und sitzt an der Straße im Schatten - die Georgier rauchend, in die Luft guckend, entspannt. Das georgische Verständnis von Zeit ist unerklärlich, überträgt sich aber auf den Reisenden und die georgische Gemütlichkeit macht sich in seinem Herz breit.
Von Tbilisi zum Meer dauert eine Marshutkafahrt gerne sechs Stunden – warum nimmt man dann nicht den geräumigeren Zug? Genau wegen eben dieser Erlebnisse – wegen der Menschen, mit denen man vielleicht nicht einmal Worte austauschen kann, wegen der Schlaglöcher und Kühe, wegen der Berge und Dörfer, die man durch die staubigen Fenster erspähen kann, wegen der Gedanken, denen man freien Laufen lassen kann beim Anblick der sich wandelnden Natur draußen, wegen des unglaublichen Musikgeschmacks der Fahrer...
„Gach’eret! “ rufe ich über den Lärm aus russischen Schlagern und das Rütteln der Schlaglöcher hinweg und die Marshutka nähert sich dem Straßenrand, ehe sie stotternd zum Stehen kommt. Mich trifft der typisch strenge, prüfende Blick der anderen Reisenden und ich sehe, wie sie mein europäisches Aussehen mit dem georgischen Ausruf zusammenbringen wollen. Vielleicht ahnen sie, dass meine Georgischkenntnisse nicht viel mehr als dieses Wort umfassen...? Ich erwidere ihre Blicke mit einem Lächeln, schiebe mich durch die Reihen nach vorne, reiche meine Münzen dem Fahrer und springe schon geübt aus dem Auto. Der Motor knattert und die Marshutka verschwindet hinter einer Abgaswolke. Ich bin zuhause.