Wo die Nacht zum Tag wird
Keine Lust mehr auf überteuerten Pariser Kaffee oder künstlichen Hipster-Wahn in Berlin - und immer noch auf der Suche nach dem idealen Reiseziel? Dann sollte das serbische Novi Sad ganz oben auf deiner Liste stehen! NATO-Bombardierung vor 20 Jahren, Europäische Jugendhauptstadt 2019 und eines der größten sowie verrücktesten Musikfestivals Europas; wer aus dieser Stadt ohne unvergessliche Eindrücke abreist, ist selbst schuld!
Hoch oben über den rot geziegelten Dächern der Altstadt, die sich jenseits des breiten Flusslaufes der Donau erstrecken, verschwimmen die verzerrten Scheinwerfer vorbei rasender Autos mit den abendlichen Lichtern, die aus den erleuchteten Wohnzimmern auf die Straße dringen. Der beißende Qualm von Tabak mischt sich mit der schwülen Sommerluft, von irgendwoher klirren die leeren Bierflaschen in dieser lauen Julinacht. Und vielleicht könnte man von den Mauern der alten Festung Petrovaradin mit dem unvergesslichen Ausblick auch das leichte Auf und Ab der Donauwellen hören, falls wieder eines der beladenen Containerschiffe jenen Flussabschnitt passieren sollte. Doch dafür dröhnt in diesen noch jungen Julitagen hier in Novi Sad, zweitgrößte Stadt Serbiens und nicht einmal 100 Kilometer nordwestlich von Belgrad gelegen, erstens der Bass von den zahlreichen Bühnen viel zu laut; zweitens tanzen zu den rhythmischen Klängen auch dieses Jahr wieder bis zu 200.000 Besucher aus über 90 Ländern wie elektrifiziert. Im Bann des international beachteten EXIT-Festivals verschwimmen in diesen vier Tagen alle Eindrücke der Umgebung zu einer nicht enden wollenden Party, von der - nach vier Tagen die Nacht durchfeiern - mehr als nur akuter Schlafmangel, taube Ohren und von Mücken heimgesuchte Beine bleiben.
Im Schatten der von westeuropäischen Touristen überlaufenen Adriaküste Kroatiens und des berühmt-berüchtigten Nachtlebens der Belgrader Metropole muss sich das nordserbische Novi Sad jedoch keineswegs verstecken und wusste sich zu einem Zentrum kultureller Vielfalt zu entwickeln. Beweis dafür ist der diesjährig verliehene Titel als Europäische Jugendhauptstadt, den man nicht nur mit zahlreichen Kunstausstellungen und Open-Air-Konzerten auslebt. Spätestens wenn man sich am Ende eines langen Tages in einem der zahlreichen Cafés zur Ruhe setzt oder an fast jeder Straßenecke vor den Pubs kleinere Gruppen von Straßenmusikern den Abend einläuten, erwacht der jugendlich-intellektuelle Geist der Stadt vollends - immerhin blickt Novi Sad stolz auf seine mehr als 40.000 Studenten, die das junge Gesicht der Donaustadt prägen. Warum nicht also einfach mal die Karten neu mischen und sich auf einen Trip einlassen, ohne vorher schon genau zu wissen, was einen erwarten wird?
Viertägige Ekstase auf dem EXIT oder doch lieber Jazz im China-Viertel?
Noch immer summen uns die Ohren, unübersehbare Augenringe nehmen den Großteil unserer Gesichter ein und lassen uns wahrscheinlich um Jahre gealtert aussehen. Hinter uns liegt der zweite Tag auf einem der verrücktesten und größten Festivals Europas; nach 12 Stunden pausenlosem Tanzen und Feiern mit Leuten aus aller Welt sind wir nur noch dankbar, irgendwo in der Altstadt bei Kaffee die letzten Tage Revue passieren lassen zu können. Lange schon bevor wir uns im Juli diesen Jahres auf den Weg nach Novi Sad mit seinem über die Grenzen weit hinaus bekannten EXIT-Festival machten, erzählten mir einige Freunde von der einmaligen Atmosphäre, von tagelanger Party zu moderaten Preisen - die Entscheidung war ohne großes Zögern gefallen.
Tatsächlich sollten sich ihre Worte mehr als nur erfüllen. Werben die unzähligen Plakate in den Gassen von Novi Sad genauso wie die Onlinewerbung - ganz zufällig nach der Buchung unserer Tickets erschien auf jeder Internetseite mindestens zwei Werbeaufrufe zum EXIT - für ein gemeinsames Fest, auf dem sich jeder Musikliebhaber wiederfindet, so ist dieser Spruch weniger billiges Versprechen als Ergebnis der verschiedensten Musikrichtungen, dargeboten auf über 20 Bühnen. Lieber Reggae um sich vorerst vom Dezibel-Rausch des Technos zu erholen oder doch lieber nicht die Performance von DJ-Größen wie Paul Kalkbrenner verpassen? Neueste Erkenntnis für mich: Nach zwei Stunden grölen mit der US-Rockband Greta Van Fleet kann klassische Musik à la Bach überaus hilfreich zur Entspannung sein, bevor schon der nächste Auftritt auf sich warten lässt.
Zweimal schon durfte sich das EXIT als bestes Festival auf europäischem Boden bezeichnen, ausgezeichnet zuletzt 2017 mit dem "European Festival Awards" stehen nach der diesjährigen Ausgabe samt Rekordbesucherzahl die Chancen nicht schlecht, sich wieder die Krone aufsetzen und noch mehr Touristen, Festival-Hopper und Schaulustige für einen Besuch überzeugen zu können. Wo sonst in Europa findet man ein Spektakel solchen Ausmaßes, auf welchem sowohl Newcomer als auch bekannte Musikgrößen das Festivalgelände - eine jahrhundertealte Festung oberhalb der Innenstadt - derart mit neuem Leben einhauchen, wo sonst tagsüber Touristen durch die alten Gassen flanieren und Selfies vor dem Panoramablick machen?
"Hosting the festival at the stunning Petrovaradin Fortress makes the adventure quirky and charming. The combination of cobblestone and uneven, hilly terrain adds to the experience. What’s more, the fortress has numerous little ‘secret’ pockets of space, and when they get utilised and turned into venue and performance space, a magical Pandora’s box effect kicks in as all sorts of events take place during the four days. It is a nice extra feature."
Das britische Musikmagazin 'Clash' ist offensichtlich auch begeistert vom 'EXIT'
Wenn man sich selbst nicht im unübersichtlichen Labyrinth der Altstadtgassen verlieren, trotzdem die in verschiedensten Farbkombinationen erstrahlenden Häuserreihen sowie die vom Reiseführer vorgeschriebene Top-10 besuchen will, lohnt es sich den Stadtplan mal unbenutzt in der Tasche aufzubewahren und frei nach Gefühl durch den Altstadtkern zu streifen. So landet man vielleicht zwar nicht unmittelbar an dem gewünschten Ziel, entdeckt dafür aber - dem Zufall sei Dank - immer wieder neue Ecken der Stadt. So wurden wir durch immer schmaler werdende Gassen vorbei an alten Werkstätten, die jetzt als lokale kafanas hausgemachten Rakija ausschenken, in einen unbekannteren, jedoch nicht minder interessanten Stadtteil (fragt die lokale Bevölkerung einfach nach 'The Chinese Quarter') geführt. Hinter der touristischen Fassade aus historischen Museen, barocken Kirchen und überfüllten Restaurants begegneten wir - auch Google Maps war überfragt, wo wir uns eigentlich befanden - dem alternativen Künstlerviertel Novi Sads; ein Hauch von urbanem Kreuzberger Hipster-Feeling strahlte von den mit Graffitis besprühten Häuserwänden auf uns ab, aus den Underground-Klubs drangen die rhythmischen Saxophonklänge einer Jazzband ans Tageslicht.
Weiß Novi Sad nicht nur mit seiner architektonischen Vielfalt zu überzeugen - sind sich neogotische Sakralbauten und sozialistischer Plattenstil schon jemals irgendwo derart nah gekommen? - überzeugt vor allem das weltoffene Klima sowie die multikulturelle Seele der Stadt. Weitaus weniger überraschend, wenn man die bewegte Geschichte der Region näher betrachtet. Nicht umsonst bezeichnen sich die Bewohner der nordserbischen Region Vojvodina, deren Hauptstadt Novi Sad ist, gern als eine kleine Ausgabe von Europa, leben auch nicht weniger als 26 verschiedene Völker seit Jahrhunderten auf engstem Raum - vergleichbar mit der Größe von Hessen. Ausgelebt wird diese Multikulti-Atmosphäre in den kleinen Ateliers, wo Einheimische an Wochenenden zu mehrsprachigen Theaterinszenierungen einladen oder eben hoch oben auf der alten Festung, wenn das EXIT wieder mal den Puls der Stadt bestimmt. Schließlich entsprang die Idee zum Festival ursprünglich einer kleinen Gruppe von Studenten Anfang der 2000er, um der jugendlichen Bevölkerung nach den Jahren des Krieges eine Alternative gegen die Desillusionierung und für einen demokratischen Neuanfang zu geben. Kulturelle Wiederbelebung auf höchstem Level, Chapeau!
In den Tagen, wo das EXIT-Festival die größte Aufmerksamkeit in Novi Sad auf sich zieht, verstehen sich tagsüber die grünen Parkoasen als Treffpunkt junger Festivalbesucher; im Schatten der Bäume beginnt hier schon das verrückte Tanzen, die Vorfreude auf den Abend ist zum Greifen nah. Wem die ganze Aufregung dann doch zu groß ist, fährt einfach mit dem öffentlichen Linienbus in Richtung des nicht einmal 30 Minuten entfernten Nationalparkes Fruška Gora. Hier warten neben verwucherten Wäldern, wie man sie eigentlich nur aus 'Herr der Ringe' kennt, auch jahrhundertealte orthodoxe Klöster und laden zu ausgedehnten Wanderungen mit garantierter Entspannung ein. Warum also nicht in zwei Jahren einen Kurztrip in die Vojvodina unternehmen? 2021 wird sich Novi Sad als Europäische Kulturhauptstadt wieder von seiner besten Seite zeigen, immerhin ist für dieses Jahr ein reiches Kulturprogramm vorprogrammiert. Und wer weiß was Novi Sad bis dahin noch alles auf die Beine stellen wird - unerwartete Überraschungen, muntere Begegnungen mit Einheimischen und unvergessliche Momente sind hier an der Donau ganz gewiss auf dem Rückweg im Gepäck!