Wandklebekügelchen
Eine mittelabstrakte Auseinandersetzung mit dem Solidaritätsbegriff in Abgrenzung zu den Worten "Helfen" und "Mitleid".
An guten Tagen - das heißt wenn die Wandklebekügelchen nicht ihren Dienst versagen - hängt in meinem Zimmer ein 1 mal 1,5 Meter großes Transparent aus Plastik. Es zeigt drei Menschen: einen Mann, eine Frau, ein Mädchen in offensichtlicher Eile nach links laufend. Weshalb die Menschen es derart eilig haben, wird in dem Bild selbst nicht näher erklärt. Allerdings wird es umrandet von den Worten "Solidaridad - Refugiad@s".
Bei diesem Banner handelt es sich um ein Überbleibsel aus dem Auslandssemester. Eine meiner Mitbewohnerinnen hatte es damals von einer der vielen linken Ecken Granadas mit in unsere Wohnung gebracht, wo es bei unserem Auszug in meinen Besitz überging. Wir alle fanden die Idee gut, die darin steckte. Heute sehe ich mich mit der Frage konfrontiert, wie diese Idee eigentlich lautet.
Refugiad@s - das ist der leichte Teil der Frage - sind Menschen, die ihre Heimat verlassen, weil sie sich einer Bedrohung ihrer Existenz ausgesetzt sehen. Lautet das Ziel ihrer Flucht Europa nehmen sie außerdem oft eine zermürbende und gefährlich bis tödliche Reise auf sich. Der Begriff "Refugiad@s" selbst, ist wohl eine kreativ gegenderte Bezeichnung für diese Menschen. Was müsste man aber tun, um der Forderung nach Solidarität mit diesen Menschen gerecht zu werden?
Eine erste Idee diese Forderung zu übersetzen, ist diese: Man sollte diesen Menschen helfen. Man sollte sichere Fluchtrouten schaffen, Asylsuchende aufnehmen und Fluchtursachen bekämpfen. Man sollte Nahrung und Wohnraum zur Verfügung stellen, Kriegstraumata behandeln und Bildungschancen eröffnen. Man sollte insbesondere Ertrinkende vor dem Ertrinken retten und nicht auch solchen, die es tun, die Arbeit erschweren. Hierbei handelt es sich um eine Auflistung sinnvoller Dinge wie Flüchtlingen geholfen werden sollte und teilweise ja auch wird. Hierbei handelt es sich nicht um die Antwort auf die Frage was Solidarität gegenüber Geflüchteten bedeutet. Was diese Handlungen im Einzelfall solidarisch macht, kann nämlich nicht die Hilfe allein sein. Ein Beispiel: Für 12 Euro in der Stunde hilft eine Freundin von mir SchülerInnen mit dem Abitur. Hilft sie Ihnen? Sie hofft. Handelt sie aus Solidarität? Bestimmt nicht. Solidarität lässt sich also nicht an einer Handlung alleine festmachen. Es bedarf ferner einer bestimmtem Einstellung. Vielleicht bedarf es sogar vor allem dieser Einstellung.
Nun aber wie soll diese Einstellung aussehen? Solidarität wird hauptsächlich dann abverlangt, wenn jemand in eine mindestens heikle Lage gerät: "Solidarität mit gewaltlosen politischen Gefangenen!", "Solidarität mit Griechenland (während der Eurokrise)!", "Solidarität mit der Bürgerbewegung in Russland!". Es handelt sich vielleicht um eine Art des Mitleids: Leid, welches man empfindet, weil man andere leiden sieht. Doch dies fasst den Solidaritätsbegriff natürlich noch nicht ganz. Schließlich steckt in der Forderung nach Solidarität mit Griechenland nicht der Aufruf man solle leiden, weil es die griechische Wirtschaft tut. Mitleid kann mitunter sogar sehr unsolidarisch sein, nämlich beispielsweise dann wenn eine Gesellschaft die Lebensumstände anderer nach ihren eigenen Maßstäben als bemitleidenswert empfindet und dann ihre eigenen Standards in deren Leben zwingt - unbeachtet dessen, ob das langfristig sinnvoll oder überhaupt kompatibel ist. In diesem Rahmen ist Mitleid ein Ausdruck der Ignoranz, und kann daher nicht den Kern der Solidarität ausmachen.
Was dem Mitleid in einer tatsächlichen Notsituation ferner fehlt, um Solidarität genannt zu werden, ist eine Form der Empathie: Die Einsicht in relevanter Hinsicht gleich zu sein. Denken wir an Solidarität mit den zahlreichen inhaftierten JournalistInnen in der Türkei, geht es nicht einfach darum festzustellen: "die sind inhaftiert und das ist traurig", nein, es geht vielmehr um die Erkenntnis: "Diese Menschen wurden eingesperrt, weil sie ein Ideal verteidigt haben, das mir selbst auch viel bedeutet. Im Prinzip haben sie meine Überzeugungen verteidigt. Im Prinzip haben sie mich verteidigt. Das heißt nicht nur, ich hätte auch getroffen werden können. Das heißt ich wurde auch getroffen."
Analog bedeutet "Solidarität mit Griechenland!" nicht man solle den Griechen helfen, weil es Ihnen schlecht geht oder weil es ein Gesetz vorsieht oder weil Deutschland gar vom Exportdefizit anderer Länder profitiert. Das kann man natürlich auch machen, hat aber nichts mit Solidarität zu tun. Solidarität mit Griechenland bedeutet, man unterstützt die griechische Wirtschaft, weil Griechenland Mitglied in derselben (Solidar-)Gemeinschaft ist und es ist ein konstitutives Element einer solchen Gemeinschaft, dass man einander die Hand hinhält, ganz gleich welches Mitglied es trifft.
Zurück zur Ausgangsfrage: Was bedeutet "Solidaridad Refugiad@s"? Natürlich ist es logische Konsequenz aus einer solidarischen Haltung, dass man diesen Menschen hilft. Aber der Begriff Solidarität fordert ferner noch die Einsicht, warum man dies tun sollte: Weil das Menschen sind. Weil wir Menschen eine Würde unterstellen. Weil es sich mit dieser Würde nicht verträgt, dass Menschen zwangsrekrutiert werden, vertrieben werden, vergewaltigt werden, verhungern, zerbombt werden, erschossen werden, gefoltert und hingerichtet werden, ertrinken. Weil das Angriffe auf die Würde dieser Menschen sind. Weil das Angriffe auf die Menschenwürde an sich sind. Weil ich das nicht hinnehmen kann ohne von der Idee der Menschenwürde zurückzuschrecken. Auch meiner eigenen.
Vielleicht lässt sich abschließend sagen Solidarität besteht in einem ersten Schritt aus Anerkennung: Du bist wie Ich. Sie tritt dann zu Tage, wenn ich aufgrund dieser Einsicht dein Unglück zu meinem Problem erkläre beziehungsweise mein Glück zu deinem Anteil. Es handelt sich insofern auch um eine Art Risikostreuungsstrategie gegenüber dem Schicksal: Geholfen wird derjenigen, die es kalt erwischt. Es hilft diejenige, die mehr Glück hatte. Man sollte diese Strategie gut pflegen. Sonst versagen die Wandklebekügelchen womöglich gerade dann den Dienst, wenn man selbst darauf angewiesen ist.