Von fremdem Land, zur Heimat
"Fremd ist man nur in einem Ort, in dem die eigene Träume, keine Chance haben um wahr zu werden"
Wenn man für längere Zeit in ein fremdes Land zieht, gibt es vier Gefühle die einen begleiten. Zuerst das Gefühl etwas neues zu entdecken: Begeisterung. Als ich am achten April 2011 zum ersten Mal in Stuttgart angekommen bin, war ich völlig sprachlos. Alles war für mich neu: die Gebäude, die Häuser, die perfekte Autobahn ganz ohne Schlaglöcher. Die modernen Geschäfte, die Eile, die Pünktlichkeit und der Perfektionismus. Die nicht so warmen Frühlingstage, die süßen und scheuen Eichhörnchen, die sich kaum blicken ließen, die nackten Bäume, die nach und nach Blätter bekamen und die eher flachen Landschaften. Im Vergleich zu den vielen Bergen an den Anden, wo ich herkomme. Alles war neu. Das Essen, das Trinken, die Sprache und die Menschen. Noch nie hatte ich so viele strahlende blaue Augen gesehen, noch nie so viel helles Haar und helle Haut. Alles war neu und ich fühlte mich zuerst wie ein kleines Mädchen, voller Begeisterung. Ich ging in der früh joggen, suchte an jeder Baum eine Eichhörnchen, ging danach einkaufen und probierte jedes Mal neue Zutaten aus. Begeisterung, ein neues Land, neue Menschen und das Versprechen meine Träume zu erreichen.
Da wo ich herkomme gibt es keine Jahreszeiten. Wir haben Regen, Wind und Sonne. Oft alles zusammen an einem Tag.
Der regnerische Frühling ging langsam vorbei, nun kam der Sommer und mit ihm ein neues Gefühl: Freude. Deutschland war nicht mehr so fremd für mich. Die Uni hatte endlich angefangen und endlich hatte ich auch ein paar Freunde. Wenn ich erzähle, dass ich aus Ecuador komme, denken alle sofort an Bananen und Sonne. Die Menschen sehen meine dunkle Haut und sind sich sicher, dass es bei mir daheim ziemlich heiß ist, doch sie irren sich. Ich komme aus dem Süden von Ecuador. Klar scheint dort oft die Sonne, aber es ist lange nicht so heiß, wie der Sommer in Europa.
Das Schönste am Sommer sind aber die lange Nächte. Die Sonne geht erst um halb zehn oder zehn unter und seine wunderbare Wärme bleibt noch viel länger. Wenn ich an den Sommer denke, werde ich sofort glücklich. Für mich bedeutet er mit Gitarre und Freunden auf der Wiese sitzen, kaltes Bier und unglaublich schöne Momente. Fremde Menschen werden im Sommer zu wahren Freunden. Es ist eine Art Zauber, den ich in Deutschland entdeckt habe.
Doch so schön wie der Sommer ist, eines Tages kommt der Wind, und mit dem Wind kommt die Sehnsucht.
Der Herbst bietet am Anfang schöne Tage. Die Sonnenstrahlen treffen die, von Regen gespritzten Spinnennetze und erschaffen goldene Lichtbällchen über den Blättern. Nach ein paar Wochen gewinnt der Wind an Stärke und nimmt alles mit sich: die Blumen, die Blätter, die Freude. Die Bäume bleiben nackt, die Eichhörnchen verstecken sich und die Menschen verlassen die Sommerwiesen und packen sich in dicke Jacken ein. Das Schlimmste an diesem Wind ist, dass er sogar droht, die schönen Erinnerungen zu zerstören. Im Herbst habe ich meine Heimat am meisten vermisst: meine Eltern, Geschwister, Haustiere, alles! Wieso entscheidet man sich in ein fremdes Land zu ziehen, wenn man Zuhause alles hat? Klar wäre es einfacher gewesen, wenn ich daheim geblieben wäre, aber nicht unbedingt besser. Daheim hätte ich wie mein Vater Jura studiert, doch das hätte mich nicht wirklich glücklich gemacht. Ich bin nach Deutschland gezogen, um meine Träume zu verfolgen, die in Ecuador keine Zukunft gehabt hätten. Die Vorlesungen waren nicht leicht. Am Anfang verstand ich nur die Hälfte von dem, was der Lehrer sagte und fühlte mich sehr frustriet. Dauernd musste ich etwas fragen und kam mir sehr dumm vor. Ich war die Einzige in meinem Jahrgang, die Deutsch als Fremdsprache hatte. Ich fragte mich, ob es eine gute Idee gewesen war. Doch als die Zeit verging, fühlte ich mich immer wohler, verstand immer mehr und alles wurde von Tag zu Tag leichter. Eines Tages, nachdem ich den Vorlesungssaal verlassen hatte, konnte ich meinen Augen nicht glauben. Durch die riesige Glaswand sah ich kleine weise Flocken, die in der Luft tanzten. Meinen aller ersten Schnee.
Der Winter kam für mich in dieses fremde Land und trotz der Kälte mit ihm die Hoffnung. Der einzige Weg, um die Dunkelheit der Wintertage abhalten zu können war die helle Hoffnung, die in mir scheinte. Ich hatte bereits drei Jahreszeiten durchgehalten, hatte neue Sachen erlebt, positive und negative. Alle beschwerten sich über den Winter und meinten, es sei die allerschlimmste Jahreszeit, doch für mich war es in Ordnung. Ich sagte mir selber: „Jeder Wintertag ist ein Tag näher an dem Frühling“. So vergaß ich die Kälte, die Dunkelheit und gewöhnte mich an den alternativen Aktivitäten. Kartenspiele, Weihnachtsmarkt, Filmabende und Schokolade waren meine neue Gefährten. So ging auch der Winter vorbei und als ich die erste Blume sah, die sich ihren Weg durch die Schneeflocken kämpfte, wusste ich, dass ich plötzlich nicht mehr fremd war. Ich hatte alle Jahreszeiten mit Begeisterung, Freude, Sehnsucht und Hoffnung durchgemacht. Heute, nach fast vier Jahren, kann ich sogar fließend Deutsch sprechen. Wenn mich jemand fragt woher ich komme, sage ich komplett überzeugt „Bayern!“ und lache sehr laut. Aber ich komme nicht aus Bayern oder aus einem anderen Teil in Deutschland. Ich bin in Ecuador geboren und aufgewachsen, dort ist meine Familie und dort sind meine Wurzeln. Ich werde nie perfekt akzentloses Deutsch sprechen und das will ich auch nicht. Man sieht meine dunkle Haut, die schwarzen langen Haare, die braunen Augen und weiß, dass ich hier nicht geboren bin, doch das ist nicht wichtig. Ich war fremd in einem neuen Land, in dem ich niemanden kannte und von dem ich nur wenig wusste. Heute, wenn ich auf der Bühne stehe und ein Lied singe, wenn ich meine Texte vorlese und vor dem Publikum stehe, fühle ich mich daheim. Ich bin nicht mehr fremd; ich bin hier Zuhause, denn hier werden nach und nach meine Träume wahr. Und wenn mal die Sehnsucht zu stark ist, wiederhole ich in meinem Kopf: „Jeder Wintertag ist ein Tag näher an dem Frühling“.
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