Schreie nach Gerechtigkeit
24 Jahre nach dem schrecklichen Massaker von Srebrenica wird der bosnische Serbenführer Radovan Karadžić vor dem UN-Tribunal in Den Haag zu lebenslanger Haft verurteilt. Zurückbringen wird das Urteil nicht die teilweise noch heute verschollenen 8.000 Todesopfer, ist jedoch ein wichtiger Schritt zur Aufarbeitung der dunklen Vergangenheit. Wie umgehen mit einem Politiker, der das größte Kriegsverbrechen auf europäischem Boden seit 1945 zu verantworten hat?
Grüne Wiesen überziehen die sanften Hänge, reichen bis zu den bewaldeten Erhebungen empor, wo sich die Natur wieder ihrer ursprünglichen Undurchdringbarkeit erfreut. Von der kleinen Ortschaft im Tale durchbrechen nur die Kirchenglocken und der Ruf des Muezzins regelmäßig die Idylle; ansonsten hat sich im Laufe der Zeit eine gewisse Ruhe über das 15.000-Einwohner Städtchen mit seinen berühmten Heilquellen gelegt. Blickt man hier, im äußersten nord-östlichen Zipfel Bosnien-Herzegowinas, in den von Berghängen umgebenen Talkessel von Srebrenica hinab, trügt der erste Eindruck. Es lässt sich nur schwer erahnen, wie fast 60.000 Menschen im Frühjahr 1993 aus Todesangst Zuflucht suchten, wie sie in den heillos überfüllten Straßen vergebens auf Medikamente und fließendes Wasser warteten, wie für Tausende das Dickicht der idyllischen Wälder zur Todesfalle wurde.
Stumm überziehen die grünen Wiesen Tausende weiße Farbtupfer; Grabsteine, die noch viel mehr aussagen als bloß die Namen der ermordeten muslimischen Jungen und Männer; stumme Zeugen für eines der schlimmsten und größten Kriegsverbrechen auf europäischem Boden seit Ausschwitz und Babij Jar. Noch nicht einmal drei Jahrzehnte trennen uns von den menschlichen Abgründen, welche sich hier im Juli 1995 abspielten, nur zwei Flugstunden von Köln entfernt und unter Aufsicht der hilflosen UNO-Blauhelmsoldaten.
"We pray to Almighty God,
May grievance become hope!
May revenge become justice!
May mother's tears become prayers
That Srebrenica never happens again
To no one and nowhere!"
- Inschrift eines Gedenksteines auf dem Friedhof für die Opfer des Völkermords, Srebrenica -
Während auch heute noch über 1000 Opfer des übersteigerten Nationalismus in Srebrenica als vermisst gelten und Expertenteams damit beschäftigt sind, mithilfe von DNA-Analysen den Hinterbliebenen die traurige Gewissheit zu bestätigen, begann vor elf Jahren der Prozess in Den Haag gegen Radovan Karadžić; jenem Mann, dem als mutmaßlichen Drahtzieher der ethnischen Säuberungen in Bosnien-Herzegowina Verbrechen gegen die Menschlichkeit in elf Fällen vorgeworfen werden. Unter seiner Amtszeit als Präsident der bosnisch-serbischen Republika Srpska erlebte Europa von 1992 bis 1996 Rassenhass unbeschreiblichen Ausmaßes; die längst seit Ausschwitz aufgearbeitet geglaubte Verachtung menschlichen Lebens wurde durch Bilder abgeschlachteter Zivilisten schlagartig wieder lebendig und durchbrach die europäische Freude über das Ende des Kalten Krieges.
Doch welche Bestrafung ist - auch im Hinblick auf die europäischen Normen - für einen Politiker gerechtfertigt, der genauso für die 44-monatige Belagerung Sarajevos mit über 10.000 ermordeten Menschen verantwortlich ist wie für das Leid und die Zerissenheit ganzer Generationen?
Der "Schlächter vom Balkan" und die lange Suche nach Gerechtigkeit
Weinend liegen sich an diesem 20. März die Mütter und Frauen in den Armen, geeint durch den Schmerz und das Schicksal, ihre Söhne, Brüder, Väter und Freunde während des Massakers in Srebrenica verloren zu haben. Auf Gerechtigkeit warteten fast ein Vierteljahrhundert die verscharrten Gebeine in den dichten Wäldern und Gebirgszügen um Srebrenica, unmöglich jemals vollständig geborgen zu werden - zu stark forderte die Natur ihr Territorium zurück, überziehen Sträucher und Bäume die minenverseuchten Massengräber irgendwo dort draußen in der Stille unter den Baumwipfeln.
Unterbrochen wurde die Stille während der Urteilsverkündung gegen Karadžić nur durch den Applaus der Angehörigen von Opfern, die sich auf den langen Weg in den Den Haager Gerichtssaal machten, um Zeuge der finalen Urteilsverkündung zu sein. Nach 13 Jahren auf der Flucht, einem 11 Jahre dauerndem Prozess und der juristischen Hürde aus Sicht des UN-Tribunals, eine angemessene Reaktion auf die Ereignisse der 1990er Jahre zu zeigen, wurde nach der quälend langen Entscheidungsphase endlich der nächste Schritt zur Aufarbeitung des bosnischen Albtraums beschritten. Bereits im März 2016 einigten sich die Richter auf eine Haftstrafe von 40 Jahren für den damals 70-jährigen Karadžić, revidierten ihr Urteil jetzt, ziemlich exakt drei Jahre später, jedoch. Die Verbrechen seien so "extrem schwerwiegend" gewesen, dass eine 40-jährige Haftstrafe "unangemessen und ungerecht" sei, so die Argumentation des Vorsitzenden Richters, die Strafe auf lebenslange Dauer zu erhöhen.
"Das jetzige Urteil ist sehr wichtig (...), da es feststellt, dass Karadžić nicht ein Held seines Volkes war, der es verteidigte, sondern ein Kriegsverbrecher, der auch seine eigene Bevölkerung missbraucht hat, um persönliche politische Ziele zu verfolgen und bei deren Verfolgung massive Verbrechen begangen hat"
Serge Brammertz, Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien
Auch wenn das Urteil nun rechtskräftig ist und Karadžić den Rest seiner Tage über die Bilder erschossener Jugendlicher nachdenken kann, abschließen mit jenen grausamen Julitagen und dem unendlichem Leid können die Opfer niemals, einen Schlussstrich ziehen schon gar nicht. Die stummen Schreie nach Gerechtigkeit werden genauso wenig verhallen wie die Hoffnung der Hinterbliebenen, eines Tages doch noch die Gebeine ihrer Angehörigen statt der leeren Särge beerdigen zu können. Doch bis jeder Leichnam identifiziert ist, werden sich noch auf Jahre hinweg jeden 11. Juli Tausende Menschen auf dem außerhalb des Stadtzentrums gelegenen Friedhof zusammenfinden, um die Erinnerung daran wachzuhalten, wozu Hass, Chauvinismus und Intoleranz fähig sein können.
Tränen trocknen nicht von heute auf morgen
Für den mittlerweile 73-jährigen Karadžić mag das verschärfte Urteil keineswegs einen Unterschied machen, sticht jedoch umso stärker als Symbol aus der bewegten Vergangenheit hervor: nach Jahren endloser Debatten und weiterer Erniedrigungen von Seiten des Angeklagten haben die Richter eine im Hinblick auf die Schrecken der 90er Jahre angemessene Entscheidung getroffen. Das stärkt vordergründig das Bewusstsein der Hinterbliebenen, dass kein Verbrechen unbeachtet oder gar unbestraft bleibt und stößt erneut die nur unvollständig begonnene oder gar verzerrte Aufarbeitung der gemeinsamen Geschichte auf dem westlichen Balkan an.
Historisches Bewusstsein für die Verantwortung unter weiten Teilen der Bevölkerung sucht man dabei genauso vergebens wie Reue in Karadžićs emotionslosem, fast schon gelangweiltem Gesicht während der Urteilsverkündung. Nur allzu oft hatte sich dieser in den letzten Jahren als Opfer eines "politischen Prozesses" darstellen wollen, begründet mit der Relativierung und Leugnung des Genozids in Srebrenica und dem Vorwurf, dass die Öffentlichkeit kein gerechtes Urteil des "Nato-Gerichts" erwarten könne.
"Wir haben lediglich auf die Angriffe muslimisch-bosnischer Kampftruppen reagiert, bei denen etwa 2000-3000 bosnische Muslime getötet wurden (...) aber keineswegs 8372, wie dies auf dem Gedenkstein behauptet wird. Das ist nichts weiter als maßlos übertrieben (...) und bösartige Propaganda"
Radovan Karadžić über den seiner Meinung nach "fabrizierten Mythos" von Srebrenica
Es grenzt zweifellos an puren Spott und Hohn gegenüber den Opfern und deren Hinterbliebenen, wenn sich Karadžić in Den Haag als Friedensstifter auf dem Balkan beschreibt. Das ist viel mehr als nur die alleinige Respektlosigkeit, sondern Beweis für die fehlende Einsicht und stärkt zusammen mit seiner anti-muslimischen Haltung auch Unterstützer in Belgrad und Banja Luka (der Hauptstadt der bosnischen Republika Srpska), wo serbisch-nationalistische Hardliner "ihren Helden" noch heute verehren und in menschenverachtenden Liedern besingen. Unterstützung erhält Karadžić dabei auch von offizieller Seite - Milorad Dodik, ehemaliger Präsident der bosnischen Serben, untergrub öffentlich als Mitglied des dreiköpfigen bosnischen Staatspräsidiums die Glaubwürdigkeit der Institutionen in Den Haag, wenn er doch behauptet, dass ein gerechtes Urteil keineswegs zu erwarten sei.
Am Ende kann keine Seite einen Abschluss finden mit den Ereignissen im Juli 1995; zu tiefe Narben durchziehen das kollektive Gedächtnis wie die zerklüfteten Täler um Srebrenica, die wohl für immer letzte Ruhestätte Hunderter anonymer Opfer sein werden. Ein einzelner Gedanke, noch so erschreckend, könnte sich mit den Ereignissen in der ost-bosnischen Stadt Višegrad Anfang des Monats bestätigt haben - der Hass und die Ablehnung, Motor des Mordens vor 24 Jahren, sind längst noch nicht erloschen. "Wir kommen von den Bergen", sangen die serbisch-extremistischen Tschetniks während des Gedenkmarsches in jener Stadt, wo sie 1943 und 1993 Tausende muslimische Bosniaken auf abscheulichste Weise ermordeten, mitunter gefesselte Kinder in den Fluss Drina warfen, anschließend erschossen,"und die Drina, die wird wieder blutig sein."