Quo vadis, Kosovo?
Die jüngste Demokratie der Welt blickt auf eine ungewisse Zukunft: Streitigkeiten mit dem serbischen Nachbarn lähmen den politischen Alltag, junge Kosovaren zieht es in Scharen Richtung Westeuropa, vor zwei Wochen löste sich dann das Parlament selbst auf. Über einen kleinen Staat im Herzen des Balkans, welcher immer noch weltweit von 79 anderen Ländern nicht anerkannt wird, sich lieber heute als morgen mit der EU-Mitgliedschaft auszeichnen wollen würde und zu einem Risikofaktor für die gesamte Region erwachsen könnte.
Dass die Uhren auf dem Balkan, mit seiner ganzen für uns Westeuropäer so unverständlichen Geschichte, noch zwischen Zagreb und Athen, zwischen der Adria und den Karpaten anders ticken, wurde anhand folgenden Zwischenfalls im Januar 2017 zum wiederholten Male deutlich. Wenn die beiden Nachbarn aus Belgrad und Priština haarscharf wegen eines serbischen Personenzuges an einer gegenseitigen Kriegserklärung vorbeischrammen, so beschreiben jene Wintertage die Absurdität eines Konfliktes, dessen Wurzeln bis ins Jahr 1389 zurückreichen und welcher bis heute als schwelender Brandherd die Stabilität einer ganzen Region an den Rand des Zusammenbruchs drängt.
"Kosovo ist Serbien" verkündeten die Schriftzüge im Zug, auf 21 Sprachen übersetzt, unmissverständlich unterstrichen auch die serbischen Nationalflaggen sowie Bilder serbisch-orthodoxer Klöster auf kosovarischem Boden die eindeutige Botschaft aus Belgrad: "Jeder Versuch Prištinas, einen Zug von Belgrad nach Mitrovica (Stadt im Nordkosovo) zu verhindern, stellt zugleich eine brutale Verletzung der grundlegenden Menschenrechte serbischer Bürger dar", stellt Serbiens stellvertretende Ministerpräsidentin Zorana Mihajlovic kompromisslos klar. Agitatorisch hält sie so Schritt mit dem rauen Ton einiger serbischer Tageszeitungen, die dem kosovarischen Staatsoberhaupt Hashim Thaçi schon vorwarfen, durch sein egoistisches Handeln einen Kriegsausbruch bewusst riskiert zu haben. Unlängst relativierte der serbische Präsident Vučić auch die eigene provozierende Haltung gegenüber den Kosovaren, habe man ja auch schließlich "nur einen Zug und keinen Panzer geschickt."
Nach den blutigen Auseinandersetzungen Ende der 1990er Jahre zwischen den serbischen und kosovarischen Kräften wird der Konflikt heutzutage vor allem mit nationalistischen Symbolen und rhetorischen Provokationen aufgeheizt. Da reihen sich Momente wie das Fussballländerspiel zwischen Serbien und Albanien von 2014 in die unrühmliche Abwärtsspirale gegenseitigen Hasses ein; eine angeblich vom Bruder des albanischen Premiers gesteuerte Drohne sorgte nicht nur für Schlägereien im Stadion und einen Spielabbruch, längere Zeit noch sollte die an jener Drohne befestigte albanische Doppeladler-Flagge die Sehnsucht großalbanischer Nationalisten hinsichtlich eines Zusammenschlusses zwischen Tirana und Priština symbolisieren.
Ein Funke – und die ganze Region brennt wieder
Auch lassen die Reaktionen sowohl auf kosovarischer als auch auf serbischer Seite eine neue Strategie erkennen. Ließ Kosovos Präsident Thaçi jenen Personenzug an seiner Grenze durch Sondereinheiten stoppen, wurden sofort Stimmen in Belgrad laut, welche nun im großen Maße eine anti-serbische Verschwörung witterten (wenn heute erst der Zug gestoppt wird, könnten dann zukünftig die im Nordkosovo lebenden Serben vollständig in ihrer Mobilität eingeschränkt werden?). Letztlich soll diese moralische Zweigleisigkeit vordergründig der geplanten Destabilisierung des Kosovos dienlich sein, nur zu gern würde sich Serbien am Ende aller Provokationen als Opfer kosovarischer Reaktionen sehen, um dann aus wohl kaum tragbaren Argumenten heraus die militärische Präsenz im Nachbarstaat zu erhöhen. Gleichzeitig bewegt sich Serbiens Präsident Vučić jedoch auf schmalem Grad zwischen innenpolitischen Forderungen vor allem nationalistischer Couleur und außenpolitischer Diplomatie unter Brüsseler Aufsicht. Denn jenseits des gegenseitigen Hasses und der Ablehnung verbindet doch beide Staaten längerfristig das gleiche Ziel, ein Wetteifern um die Aufnahme in die Europäische Union – was jedoch mindestens die beidseitige Dialogbereitschaft voraussetzt.
"Die einzige vorstellbare Zukunft für uns liegt in der Europäischen Union. Und wir arbeiten daran (...) Wir sind Europäer, aber es gibt noch immer viele Vorurteile gegen uns."
Der kosovarische Präsident Hashim Thaçi im "Spiegel" über die Zukunftsperspektiven des Kosovo
Seit 2011 versuchen sich das Kosovo und Serbien mithilfe eines von der EU vermittelten Dialogs auf Kompromisse und eine Normalisierung des Status quo zu einigen – seither mehr schleppend als ergebnisreich. Negativen Höhepunkt der bilateralen Beziehungen während dieses vermeintlichem "Friedensprozesses" bildete der letztjährig ausgetragene Handelsstreit, als die Regierung in Priština de facto jeglichen Handel mit seinem serbischen Nachbarn (immerhin dem größten Handelspartner des Kosovo) durch Einfuhrzölle in Höhe von 100 Prozent abbrach. Betrachtet man unabhängig von diesem wirtschaftlichem Himmelfahrtskommando die sowieso schon prekäre ökonomische Situation auf dem Balkan – erwähnt werden muss auch die erhebliche Preissteigerung für Grundnahrungsmittel wie Brot im Kosovo mit Beginn des Handelskriegs – lassen sich die Entscheidungen des Kabinetts in Priština eigentlich nur als ein aus reiner Willkür getroffener Schritt interpretieren, um sich weiter gegen Belgrad aufzulehnen; ganz zufällig wurde eine Woche zuvor dem Kosovo die Aufnahme in die internationale Polizeiorganisation Interpol abgelehnt nachdem Serbien und seine verbündeten Staaten mehrheitlich dagegen stimmten.
Will die Europäische Union den belastenden Konflikt glaubhaft und tatkräftig zu einer Lösung bringen, sollte sie sich nicht nur zögerlich auf die kosovarische Unabhängigkeit von 2008 berufen, sondern engagierter in der Region auftreten; allein der Handelsstreit zwischen Kosovo, Serbien und Bosnien-Herzegowina hätte sich zu einem ungeahntem Flächenbrand auf dem Balkan erweitern sowie weitere Staaten in den Abgrund wirtschaftlicher Stagnation und staatlichen Bankrotts treiben können. Unterschätzen sollten auch Merkel und Macron keineswegs die undurchsichtige Verknüpfung aus historisch bedingten Gegebenheiten, religiöser Empfindlichkeit sowie verschärften nationalistischen Tönen seit Ende der Jugoslawienkriege in den 1990er Jahre, die die Problemlösungen auf der Balkanhalbinsel zur diplomatischen Herkulesaufgabe erwachsen lassen. So könnten die auf der diesjährigen Balkan-Konferenz diskutierten Gebietsaustausche zwischen Serbien und dem Kosovo auf den ersten Blick zur Normalisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen führen - würden jedoch weit mehr die befürchtete Büchse der Pandora öffnen, an deren Ende sich ein Krieg von solch ungeahnter Gewalt befindet, wie ihn die Staaten Ex-Jugoslawiens bereits vor rund einem Vierteljahrhundert erfahren mussten. Man stelle sich nur diesen Gebietsaustausch vor; sofort würde die Stunde der separatistischen Nationalisten im zersplitterten Bosnien-Herzegowina schlagen, die schon seit Jahren propagierte Autonomie der auf bosnischem Boden gelegenen Serbenrepublik ("Republika Srpska") und der Anschluss mit Belgrad wäre nur eine Frage der Zeit; der albanische Bevölkerungsanteil in Nord-Mazedonien würde auf ihrem Weg zum Anschluss mit Albanien ungeahnte Konsequenzen für die mazedonische Zukunft anstoßen; alte Grenzkonflikte zwischen den Kroaten und Slowenen brächen wieder auf und Bosnien-Herzegowina würde sich aus osmanischer Tradition den muslimisch geprägten Süden Serbiens ("Sandžak") wieder einverleiben.
Eine völlig ungeahnte Dimension an Chaos würde die Balkanhalbinsel wieder in die einstige Gemengelage verwandeln, welche sie bereits in den Jahren kurz vor Ausbruch des 1. Weltkrieges gewesen ist. Ähnlich wie damals konkurrieren auch im Jahr 2019 stärker denn je die internationalen Mächte und Global Player um die die wirtschaftliche Vorherrschaft und internationale Präsenz auf dem Balkan. Aus Tradition heraus sieht Putins Russland Serbien immer schon als seinen verlängerten Arm in der Region an, ganz absurd wird die Geschichte bei dem Gedanke, dass die russische Seite für den pro-serbischen Zug aufkam und auch keinerlei Zeichen von sich gibt, der EU zu folgen und die Unabhängigkeit des Kosovo anzuerkennen. Dem stehen die USA und die Nato gegenüber, wobei neben Kroatien, Albanien und Montenegro bald auch noch Nord-Mazedonien Teil des transatlantischen Bündnisses sein könnte. Noch undurchsichtiger gestaltet sich der Durchblick über die Staaten Ex-Jugoslawiens aufgrund des zunehmenden Einflusses der Türkei unter Erdogan und Saudi-Arabiens, deren Beziehungen seit dem Mord am saudi-arabischen Journalisten Khashoggi in Istanbul abgekühlt sind. Auch China sieht den Balkan als Teilprojekt für seine geplante "Neue Seidenstraße", die Investitionen werden voraussichtlich genauso zunehmen wie die politische Einflussnahme. Also, wenn die Europäische Union nicht die wirtschaftlich-infrastrukturell schwachen, von politischer Korruption überzogenen Staaten des Balkans den "Vorzeigedemokratien" aus Istanbul, Peking oder Moskau und deren Verständnissen für Demokratie überlassen will, sollte sie jetzt schon anfangen zu handeln bevor die Würfel gefallen sind.