Entscheidung
Ein Ausschnitt aus meinem Tagebuch, den ich während einer schwierigen Phase schrieb.
Taucha 14.04.09
Ich weiß ich hab sehr lange nicht mehr geschrieben, aber es ist so viel passiert, dass ich nicht mehr dazugekommen bin. Mein Papa hat nämlich gestern die Facharztprüfung bestanden, weil sie ihm gesagt haben, dass er eine bessere Arbeitsstelle bekommt. Wir haben uns so für ihn gefreut. Doch heute, als er von der Arbeit nach Hause gekommen ist, hat er uns erzählt, dass das Krankenhaus keine Fachärzte mehr braucht und (Oh, nein!), dass er keine Arbeit mehr hat. Ich hätte nie gedacht, dass uns so was zustoßen kann. Wahrscheinlich denken die nur: „Der wird nur eine Last für uns sein. Alles muss man ihm übersetzen und erklären und die Patienten werden sich auch nicht freuen.“ Aber das stimmt doch gar nicht! Papa kann eigentlich viel besser Deutsch als alle denken, sonst könnte er ja gar nicht arbeiten.
Und wie soll Papa jetzt Geld verdienen, um uns alle zu versorgen? Wir sind eine sechsköpfige, polnische Familie und das ist schon viel. Aber Mama und Papa sagen, dass alles gut wird.
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Taucha 19.04.09
Meine Eltern suchen die ganze Zeit nach einer Arbeit für Papa.
Heute hat Papa ein Angebot in einer Rehaklinik in der Nähe von Leipzig gefunden. Er ist zu einem Bewerbungsgespräch gefahren. Es sieht gut für uns aus.
Ich freu mich so! Ich hab schon gedacht, dass wir in eine andere Stadt ziehen müssen, obwohl wir erst vor fünf Jahren von Polen hierher gezogen sind. Ich war damals vier und habe kein Wort Deutsch gesprochen. Ich kann mich noch an meinen ersten Tag im deutschen Kindergarten erinnern. Ich habe nichts verstanden und alles war total anders. Aber jetzt habe ich mich hier eingelebt und ich habe sogar eine beste Freundin, Julia.
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Taucha 23.04.09
Es wird doch nichts mit der Rehaklinik.
Sie brauchen dort nur eine Karenzvertretung für ein Jahr und diese Stelle hat Papa nicht angenommen, weil er dann nach einem Jahr wieder eine neue Arbeit suchen müsste.
In der Nähe von Leipzig und auch in Leipzig gibt es keine Arbeitsstelle für Papa.
Er wird ein Arbeitslosengeld beantragen müssen. KATASTROPHE!!!
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Taucha 30. April 09
Heute hat Mama im Internet eine Anzeige für eine Arbeitsstelle in einem Krankenhaus in Linz in Österreich entdeckt. Papa wird dort hinfahren. Ich habe so Angst, dass wir nach Österreich ziehen müssen. Dann müssten wir das schöne Haus mit dem Garten verlassen, das meine Eltern gerade erst gemietet haben. Und ich komme doch bald in die vierte Klasse. Das letzte Schuljahr vor dem Gymnasium. Aber meine Eltern sagen, dass das alles besser ist als Arbeitslosengeld. Warum kann Mama nicht arbeiten gehen? Dann wäre das alles viel leichter.
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Taucha 3.05.09
Mein Papa hat die Stelle in Linz bekommen, und jetzt haben sich meine Eltern entschieden nach Linz zu ziehen. Sie sind nach Österreich gefahren, um dort eine Wohnung zu suchen. Wir müssen so lange bei Bekannten wohnen. Aber ich will nicht umziehen! Dann hab ich ja keine Freundinnen und überhaupt kenne ich dort keinen. Was ist, wenn die Lehrer dort so streng sind wie unsere Englischlehrerin? Ich halte das nicht aus! Warum müssen wir bloß umziehen? Es wäre schon schlimm genug, in eine andere Stadt zu ziehen, aber noch dazu in ein anderes Land.
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Taucha 8.05.09
Mama und Papa haben eine Wohnung gefunden.
Mama schwärmt davon, dass das Wohnzimmer so groß ist wie ein Ballettsaal und dass die Wohnung fantastisch ist. So wie sie sich eine Traumwohnung vorgestellt hat. Ein Altbau in zentraler Lage.
Ich verstehe nicht, warum meine Eltern überhaupt nicht traurig sind, umzuziehen und Taucha zu verlassen. Mama hat zwar immer gesagt, dass wir hier in einem Kaff wohnen, in dem es gar nichts gibt und dass man immer nach Leipzig fahren muss um etwas zu besorgen, aber die Entscheidung, ob wir umziehen sollen, ist ihr doch schwer gefallen und jetzt auf einmal ist sie wieder glücklich.
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Taucha 17.06.09
Heute ist mein Geburtstag. Aber wir haben ohne Papa gefeiert. Er hat schon mit der Arbeit in Linz angefangen und kommt erst übermorgen. Papa kommt jetzt jedes Wochenende und nimmt jedes Mal einen Teil unserer Sachen aus dem Haus mit und bringt sie in die neue Wohnung. Wir schlafen jetzt nur noch auf Matratzen. Ich hab mich schon an den Gedanken gewöhnt, nach Österreich zu ziehen. Trotzdem bin ich noch traurig. Ich habe meinen Freundinnen die Adresse von der Wohnung in Linz gegeben, damit sie mir schreiben können.
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Taucha 26.06.09
Wir haben heute unsere Zeugnisse bekommen. Ich habe gute Noten und meine Lehrerin hat mir ein Abschiedsgeschenk gegeben. Aber ich habe geweint. Nicht nur ich, sondern fast die ganze Schule (außer den Lehrern, natürlich). Die Viertklässler haben geweint, weil sie in eine neue Schule kommen würden. Wir (meine Schwester und ich) haben wegen dem Umzug geheult und der Rest weinte, weil die Direktorin in Pension gehen würde und die Stellvertreterin so streng ist, dass manche sogar Angst vor ihr haben. Als wir nach Hause gegangen sind stand dort das Umzugsauto das den Rest unserer Sachen mitnahm. Und als ich den Wagen gesehen hab musste ich wieder weinen.
Dann hat uns ein Bekannter zu sich nach Hause mitgenommen, um uns zu trösten und wir spielten mit seinen Kindern. Aber ich musste die ganze Zeit nur an den Umzug denken. Jetzt sind wir wieder zu Hause. Am Abend kommen Oma und Opa. Sie werden uns morgen nach Polen ans Meer mitnehmen, damit wir beim Umzug nicht stören und etwas Ablenkung haben.
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Linz 10. 09.09
Ich habe dich gerade in meiner Schultasche gefunden und ich habe gesehen, wann ich meinen letzten Tagebucheintrag gemacht habe. Das war vor drei Monaten (!!!) und da waren wir noch in Deutschland. Es ist voll cool hier und irgendwie vermisse ich Taucha überhaupt nicht. Und das Tollste ist, dass wir einen Monat länger Ferien hatten, weil die Schule in Deutschland früher aufgehört hat als in Österreich und auch früher angefangen hat als hier. Wir haben uns in den Ferien Linz angeschaut. Linz ist dieses Jahr die Kulturhauptstadt Europas und deshalb gibt es viele zusätzliche Attraktionen. Aber in fünf Tagen fängt die Schule hier auch an und ich bin schon sehr aufgeregt!
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Linz 15. September 09
Heute war mein erster Tag in der neuen Schule. Es war eigentlich gar nicht so schlimm. Ich hab mich auch gleich mit einem Mädchen angefreundet. Es heißt Sarah und ist auch neu in der Klasse, aber Sarah kennt die meisten Schüler schon, weil sie einmal eine Woche hier schnuppern war. Ich finde, dass alle Kinder freundlich sind, aber vielleicht ist das nur der erste Eindruck. Meine neue Lehrerin ist auch nett. Sie heißt Frau Steinberg und ist unsere Klassenlehrerin und zugleich die Mathe-, Deutsch, Englisch- und Turnlehrerin. Hier ist alles anders als in Deutschland. Hier heißt der Sportunterricht zum Beispiel nicht Sport sondern BSP (Ballspiele und Sport). Frau Steinberg hat mich schon ganz am Anfang gefragt, ob ich mit auf Klassenfahrt fahre. Ich hab nicht genau gewusst, ob ich will, deshalb hat sie gemeint, dass ich ihr morgen Bescheid sagen soll. Die Klassenfahrt ist nämlich schon nächste Woche.
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St. Oswald 23.09. 09
Das ist der vorletzte Tag unserer Klassenreise. Wir wohnen hier in einer Jugendherberge, die wie eine Burg aussieht. Wir waren heute in Freistadt und gestern haben wir eine Rätselrallye durch St.Oswald gemacht. Ich bin in einem Zimmer mit Sarah und noch drei anderen Mädchen. Leider schlafe ich unten, weil ich den komischen Dialekt der Österreicher nicht so richtig verstehe. Sarah hat mich nämlich gefragt ob ich „owi“ oder „aufi“ will und ich hab gedacht, dass „owi“ etwas mit oben zu tun hat ,deshalb hab ich auch „owi „ gesagt, weil ich natürlich oben schlafen wollte, aber leider bin ich auf dem unteren Bett gelandet, denn „owi“, heißt eigentlich nach unten und „aufi“ heißt, nach oben. Ich muss mich wohl noch an den österreichischen Dialekt gewöhnen. Wir machen heute Abend eine Burg-Disco. Ich freu mich schon darauf.
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Linz 14.08.12
Oh mein Gott! Ich hab zwei Jahre keinen Eintrag mehr gemacht. Ich hab dich vor einer Woche ganz verstaubt ganz hinten in meinem Bücherregal entdeckt. Ich musste nämlich alle meine Bücher ausräumen, weil bei uns die Wände gestrichen worden sind. Es ist sooo viel passiert, dass ich nicht zum Schreiben gekommen bin. Ich hab mir dir letzten Einträge durchgelesen und ich muss sagen, dass sich jetzt Vieles verändert hat. Mittlerweile verstehe ich den österreichischen Dialekt sehr gut und ich komme dieses Jahr nach den Ferien in die dritte Klasse Gymnasium und hier haben wir wieder genauso wie in Deutschland für jedes Fach einen anderen Lehrer. Ich hab jetzt natürlich andere Freundinnen. Und mir gefällt es hier in Österreich besser als in Deutschland. Die Entscheidung meiner Eltern mit dem Umzug war vielleicht doch nicht so schlecht. Hier passiert irgendwie viel mehr als dort. Deshalb hab ich ja so lange nicht geschrieben, weil immer etwas los war. Ich werde mir aber vornehmen, in Zukunft öfter zu schreiben.
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