Eine wachsende Insel und die Rätsel der Zugvögel
Die Grenze, die meine Erfahrungen des letzten Jahres am meisten geprägt hat, ist eine, die sich durch die Kräfte der Natur ständig hin und her bewegt. Eine bewegliche Grenze? Wieso kommt das?
Die Grenze, die meine Erfahrungen des letzten Jahres am meisten geprägt hat, ist eine, die sich durch die Kräfte der Natur ständig hin und her bewegt. Eine bewegliche Grenze? Wieso kommt das?
So kommt das. Ich habe meinen europäischen Freiwilligendienst bei einer Naturschutzorganisation auf der kleinen Insel Neuwerk im deutschen Wattenmeer gemacht. Typisch für die Inseln des Wattenmeers ist, dass sie nicht immer Inseln sind. Ursache dafür is der Rhythmus der Gezeiten: Bei Hochwasser umringt das Meer das Land, wie man es bei Inseln normalerweise erwartet, aber knapp über sechs Stunden später ist bei Niedrigwasser kilometerweit kein Meer mehr zu sehen. Dadurch wachsen die Inseln und schrumpfen dann wieder – und das alles zweimal pro Tag. Deswegen darf man von flexiblen Grenzen sprechen.
Dieses Phänomen kann man auf Neuwerk sehr schön ,,live” beobachten, und während sich das Wasser immer weiter Richtung Horizont zurückzieht, hat man reichlich Gelegenheit, über das Thema Grenzen nachzudenken. Doch bevor ich zu diesen weiteren Schlussfolgerungen komme, ernenne ich noch zwei andere Grenzerfahrungen, die ich durch mein EVS-Projekt gemacht habe.
Zuerst eine ungewöhnliche Art Grenzübergang. Die besondere Lage der Insel Neuwerk heiβt, dass die ,,Verkehrsverbindung” zwischen Festland und Insel keine einfache Geschichte ist. Bei Flut, wenn das Meer tief genug ist, kommt zwar einmal pro Tag eine Fähre, aber bei Ebbe ist das nicht mehr möglich und die Reise wird entsprechend spannender. Dann fahren nämlich die Pferdekutschen über das trockende Meeresgrund die 13-kilometerlange Strecke. Diese Tradition, inzwischen von Touristen sehr beliebt, hat ihre Wurzeln im Postdienst, der sich in vergangenen Zeiten nicht auf eine regelmäβige Schiffverbindung verlassen konnte. Und auch heute kommen sowohl Fähre als auch Pferdewagen nur im Sommer auf die Insel. Rund 40 Menschen (2012/2013 einschlieβlich zwei EVSler!) wohnen aber das ganze Jahr über auf Neuwerk. Zum Glück konnten wir manchmal auch in den Wintermonaten auf die Hilfsbereitschaft unserer Nachbarn zählen, als wir zum Beispiel zu Weihnachten nach Hause wollten oder ab und zu Lebensmittel gebraucht haben, den die Inselbewohner fahren Traktoren über die eisigen Wattflächen, wenn es dringend wird. Auf jeden Fall ist man aber in dieser Situation dazu gezwungen, sich genau zu überlegen, ob die Überfahrt wirklich nötig ist. Eine Reihe an neuen Überquerungsstrategien also – und an neuer Rücksicht vor natürlichen Hindernissen.
Eine drittes Erlebnis, das mich zu Reflektionen zum Thema Grenzen geführt hat: die nahe Beobachtung des Vogelzugs. Das gesamte Wattenmeer ist schlieβlich eine sehr wichtige, nahrungsreiche Zwischenstation für verschiedene Vogelarten, die im europäischen Frühling in den Norden fliegen und im Herbst wieder südlich ziehen. Eine der Aufgaben, die zu meinem EVS-Projekt gehört hat, bildete die Teilnahme an einer regelmäβigen Vogelzählung auf der Insel. Dadurch konnte ich gut mitfolgen, wie sich die Zahlen und Arten im Laufe der Jahreszeiten ändern: Man erkennt in diesen Mustern eine Form von Migration, die keinen Schengen-Vertrag benötigt, um sich frei und grenzenlos zu nennen. Vor allem durch die Beringung und so ermöglichte Dokumentierung bestimmter Vögel ist es für den Menschen interessant nachzuschauen, dass ein markiertes Individuum zum Beispiel in Südfrankreich überwintert, auf Neuwerk rastet und die Sommermonaten in Nordsibirien verbringt. Für die Tiere an sich haben solche auf nationale Grenzen basierende Kategorisierungen aber wenig Bedeutung.
Ich hoffe, ich habe inzwischen schon etwas Interessantes über die Landschaft und die Naturspektakel übertragen, denen ich durch mein EVS in der Wattenmeer-Region begegnet bin. Nun will ich diese persönlichen Erfahrungen auch mit allgemeineren Perspektiven zu der ,,Grenzen”-Frage verbinden, vor allem im europäischen Zusammenhang. Die erste Grenze, die ich hier dargestellt habe, ist der Umriss der Insel Neuwerk, der nie völlig stabil ist. Für mich steht das für die Erkenntnis, dass das auch für andere Grenzen gelten kann: Sie sind öfters auch nicht so unveränderlich, wie sie vielleicht im ersten Fall wirken. Auf meiner eigenen Ebene verknüpfe ich dieses Verständnis mit der Tatsache, dass ich durch das EVS-Projekt im Umweltschutz in einem Bereich gearbeitet habe, in der ich am Anfang wenige Vorkenntnisse hatte und sehr viel Neues lernen musste: Ich habe mein Interessen-, Fähigkeits- und Prioritätenfelder erheblich erweitert. (Kurz gesagt: Ich bin Hobby-Vogelbeobachter geworden!) Ich glaube, dass internationaler Austausch und Gelegenheiten wie EVS sehr viel dazu beitragen, dass man sich selbst entwickelt und die eigenen Grenzen neu definiert.
Andererseits haben mir die Herausforderungen der Überfahrt zwischen Festland und Insel andererseits nach ernsthafter Erwägung zum Gedanken gebracht, dass einige Grenzen doch zu berücksichtigen sind. Auf Neuwerk hätte ich schlieβlich nie gewollt, dass es plötzlich eine unterirdische Autobahnverbindung oder Ähnliches gäbe, damit man schnell hin- und herspringen könnte: Und das nicht mal in den dringendsten Fällen. Die Getrenntheit und Einzigartigkeit muss man auch schätzen können, ohne sich schuldig und rückständig zu fühlen. Das sehe ich in Zusammenhang mit den verschiedenen Sprachen, Religionen, Bildungssystemen und auch Kochkünsten von Europa, von denen ich in diesem Jahr auch viele kennengelernt habe. Solche Unterschiede sollte man teilen, austauschen, gelegentlich auch mischen und weiterentwickeln, aber sie komplett durchzureiβen wäre ein bedenklicher Verlust.
Der Vogelzug ist natürlich ein so faszinierendes Thema, dass man ewiglang seine Bedeutungen für die Grenzen-Debatte interpretieren könnte. Hier schränke ich mich auf den einen Punkt ein. Vorhin hatte ich darauf hingedeutet, dass nationale Grenzen keine Wichtigkeit für die Flugwege der Zugvögel haben. Das ist leider nicht genau richtig. Auch wenn diese Tiere weder Pässe tragen noch Fahrkarten buchen müssen, ist der Einfluss der menschlichen Grenzen doch noch ziemlich groβ. Denn seit der Industrialisierung der letzten Jahrhunderten sind sowohl Vögel als auch andere Tiere und Pflanzen davon abhängig, wie sehr oder wie wenig der Mensch sie noch beschützen will. Und das ist von Staat zu Staat ganz unterschiedlich. Wenn wir komplexe Ökosysteme und die Artenvielfalt der Welt noch unterstützen möchten, muss die Umweltpolitik unbedingt eine grenzenüberschreitende Politik sein. Daher halte ich viel von europaweiten Verträgen und Initiativen in diesem Gebiet, wie zum Beispiel das Netzwerk ,,Natura 2000”.
Die Kernfrage in allen Sachen Grenzen: zu erweitern, zu erkennen, oder doch zu überschreiten? Schlieβlich sind sie immer vereinzelt zu behandeln, auf keinen Fall pauschal zu akzeptieren oder zu bekämpfen. Das haben mir der atemraubende Gezeitenwechsel, die Besonderheiten des Insellebens, die bezaubernde Naturerscheinung Vogelzug und noch viele andere Erfahrungen in diesem Jahr deutlich klargemacht!