Aus aktuellem Anlass: Wohin uns Hass nur führen kann
Was haben die neuseeländische Stadt Christchurch, die italienische Insel Lampedusa und die US-amerikanische Südgrenze mit Mexiko gemeinsam? Sie alle können als Synonym verloren gegangener Menschlichkeit gesehen werden - und das in einer Welt, die sich ständig weiterentwickelt, jedoch keine Antworten auf die (wirklich) drängenden Probleme unserer Zeit findet. Haben wir verlernt, was es heißt, Mensch zu sein?
Bedarf es für die offensichtlichen Ungerechtigkeiten unserer "fortschrittlichen" Welt noch irgendwelcher Worte? Uns erreichen täglich neue Bilder von Hass, egal ob in den Moscheen von Christchurch oder in den Kirchen Colombos, von den sumpfigen Grenzgebieten zwischen Myanmar und Bangladesch, wo den Rohingya-Flüchtlingen fernab von medialer Aufregung das gleiche Schicksal droht, wie den Tausenden Hilfesuchenden in den tiefblauen Wassermassen des Mittelmeeres - vergessen und übersehen, irgendwo zwischen den Meldungen darüber, wie viel der deutsche Staat wegen der "Flüchtlingskrise" zahlen muss und der Frage, ob die Lombardis doch wieder ein Paar sind.
Warum ist das eigentlich so? Im Jahre 2019 scheint der Brand einer jahrhundertealten Kirche (bitte versteht mich nicht falsch, die Geschehnisse um Notre-Dame sind mehr als nur eine Tragödie) uns mehr zu bewegen als die Bilder verhungerter Kinder im Bürgerkriegsland Jemen. Menschen verharren tagelang in Warteschlangen vor den Apple Stores, nur um ein 13,8 mal 6,7cm kleines Stück Metall ihr Eigen nennen zu können, während für deren Herstellung Praktiken angewandt werden, die jenseits unserer Vorstellungen liegen, wenn auf Arbeit doch mal wieder der Kaffeeautomat streikt.
Um welchen Sinn dreht sich das menschliche Dasein im 21. Jahrhundert? Ist es das alles wirklich wert? Oder sind wir gerade dabei, uns von der Eigenschaft zu entfremden, die uns doch eigentlich alle verbinden sollte - dem Menschsein?!
5 vor 12 oder ist der Zug schon abgefahren?
79 Jahre liegen schon zwischen der Veröffentlichung Charlie Chaplins "Der große Diktator" und heute (falls ihr den Film noch nicht gesehen habt, möchte ich euch ihn hiermit unbedingt ans Herzen legen!), doch vor allem seine abschließende Rede erscheint nach einem an Terror und Innovation reichem Jahrhundert aktueller denn je. "Wir haben die Geschwindigkeit entwickelt, aber innerlich sind wir stehen geblieben", prophezeit der Chaplin der 40er Jahre, "wir lassen Maschinen für uns arbeiten und sie denken auch für uns." Tatsächlich erreicht unsere Fortbewegung ein immer höheres Maß an Geschwindigkeit, nie zuvor war unsere Welt derart vernetzt und miteinander verbunden, dank Facebook, WhatsApp und Co. können wir mit Freunden jederzeit am anderen Ende der Welt Momente teilen. Und dennoch waren auch noch nie zuvor die Unterschiede zwischen den Menschen so deutlich wie in diesen Tagen.
Denn während erste Magnetschwebebahnen mit bis zu 1000 km/h durch die chinesische Weite fahren, Autokonzerne sich jährlich mit neuen Innovationen zu überbieten versuchen und 3-D-Drucker in Tel Aviv Mini-Herzen aus menschlichem Gewebe drucken, hat die Menschheit bis heute keine Antworten und nachhaltige Lösungen auf die drängenden Fragen unserer Zeit gefunden. Das Hungerleiden in den krisengebeutelten Staaten der Subsahara hat sich genauso wenig verändert wie die Haltung der weltweiten Staatengemeinschaft, weiterhin Hunderte an Milliarden Dollar in lebensverachtende Waffensysteme zu investieren; offensichtlich waren nicht einmal zwei Weltkriege und die zahllosen Kriegswirren des vergangenen Jahrhunderts genug, um uns zum Umdenken zu zwingen. Ist sich der Mensch also selbst der größte Feind?
"Wir haben die Geschwindigkeit entwickelt, aber innerlich sind wir stehen geblieben"
Berechtigte Frage, fürchten die Menschen wohl aber eher materiellen Verlust im Leben als die Auswirkungen ihres eigenen Handelns. Der Klimawandel beispielsweise ist ein real existierender Beweis für das menschliche Bewusstsein, die Zukunft sowie eine grenzenlose Bereicherung ohne Sorgen immer weiter vorantreiben zu können, unabhängig davon ob der Zeiger schon 5 vor 12 schlägt oder der Zug schon längst abgefahren ist. Auch bringen uns Hassparolen gegen Andersdenkende, Andersgläubige und Menschen mit unterschiedlicher Herkunft keinen Meter voran, ja, schwächen uns schon selbst und lassen immer die Humanität als Verliererin auf der Strecke zurück!
Wenn die Alternative für Deutschland (AfD) unbedingt hinter jedem Unglück - von Notre-Dame bis zur Amokfahrt in Münster - einen islamistischen Anschlag vermuten muss und dies als Anlass auffasst, noch stärker gegen "Kopftuchmädchen und alimentierte Messermänner" zu agitieren, vertritt sie weniger ein starkes, als ein zukünftiges von Hass und gegenseitigem Misstrauen zerrissenes Deutschland - und dann müssten wir uns wirklich Gedanken über eine echte Alternative machen.
Ungebetener Gast, wirst du dich niemals ändern?
Der Mensch ist ein Egoist. Man stelle sich einen zufällig erschienenen Gast auf einer Party vor, der sich von allen Speisen und Getränken so viel in die eigene Tasche steckt, dass nicht nur die anderen Gäste leer ausgehen – auch kann er nicht mehr laufen und erschrickt, wenn sich auf den Tellern schon zu Beginn des Abends nichts mehr befindet. Schlimmer noch: Hat die Menschheit jemals wirklich aus ihren eigenen Fehlern gelernt oder scheint sich die Geschichte in unregelmäßigen Abständen zu wiederholen? Wir brauchten erst die erschreckenden Beispiele in Fukushima oder Tschernobyl, um einen längst überfälligen Atomausstieg umzusetzen, den in der Europäischen Union erst Italien, Österreich und Litauen vollständig umgesetzt haben. Offensichtlich waren auch die atomaren Albträume von Hiroshima und Nagasaki nicht abschreckend genug, beweist dies doch immer noch die Existenz weltweit in neun Staaten von über 15.000 Atomsprengköpfen, produziert für - ja, für wen oder was denn eigentlich? Die Regierungen in Paris, London und Washington D.C. setzen offensichtlich andere Prioritäten in Zeiten, wo mehr als 800 Millionen Menschen an Unterernährung leiden und sich Mitte 2018 fast 70 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht befanden. Oder waren es nicht die USA, die in Form von Donald Trump einen milliardenschweren Waffendeal mit - Achtung: Saudi-Arabien - in Höhe von - Achtung - 110 Milliarden Dollar aushandelten? Exportierte Frankreich nicht auch jenseits jeglicher Moral Waffen in den Wüstenstaat und forderte den deutschen Nachbarn auf, Regeln für den Waffenexport zu lockern?!
"Sie sollten mehr Angst vor allen Autos der Nachbarschaft als vor traumatisierten Familien aus Syrien haben"
Geld statt Moral, die abscheulichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden auf absehbare Zeit kein Ende finden. Genauso wenig wird jedoch auch die Zuwanderung Geflüchteter kein Ende nehmen, deren Heimat mit unseren exportierten Waffen zerschossen wird. Machen menschenverachtende Sprüche über Geflüchtete auf dem Mittelmeer glücklich, geben sie Rassisten ein Gefühl der inneren Überlegenheit? Das Gefühl, auf "der richtigen Seite" geboren worden zu sein, im Überfluss der westlichen Gesellschaft? Parolen wie "Absaufen! Absaufen!" auf den Dresdner Pegida-Demos sind letzten Endes größtmöglicher Beweis für eine erschreckende Kombination aus Ahnungslosigkeit und Gefühlskälte.
Dabei sollten die noch so besorgten "Ich habe ja nichts gegen Ausländer, aber..."-Bürger mehr Angst vor allen Autos der Nachbarschaft und deren Luftverschmutzung haben als vor traumatisierten Familien aus Syrien; nicht Geflüchtete bedrohen das gern von rechten Demonstranten gepriesene Abendland, vielmehr ist es der größte Stolz der Deutschen - ob nun Volkswagen, Audi oder Mercedes - welcher die schleichende Bedrohung des eigenen Wohlstandes aufrechterhält und verstärkt.
Zutaten: Hass, Xenophobie, Verachtung
Wenn die verwackelten Aufnahmen aus Christchurch und Sri Lanka über die Nachrichtensender jagen, zweifle ich fast wie von selbst am menschlichen Verstand, wächst in mir die Frage, wie ich diese Bilder auf der Couch sitzend, das Handy direkt neben mir, anschauen kann, ohne den eigenen Verstand zu verlieren. Wie schrecklich doch der Sarkasmus auf unserer Welt sein muss, wenn ich nur einen Knopf auf der Fernbedienung drücken kann, um die Nachrichten über getrennte Familien an der US-amerikanischen Südgrenze mit Mexiko - weinende Kinder, Deportation, Nulltoleranzpolitik - gegen Sendungen à la ZDF-Fernsehgarten zu tauschen.
"Machen menschenverachtende Sprüche über Geflüchtete auf dem Mittelmeer glücklich, geben sie Rassisten ein Gefühl der inneren Überlegenheit?"
Verabschieden wir uns gerade von uns selbst oder hat sich die Welt schon längst von uns verabschiedet, bereitet gerade ihren Abgang vor? Verübeln könnten es die Menschen ihr nicht, oder würde ein Freund zurückkehren, der jahrelang ausgenutzt und bespuckt wurde, dem nie jemand zuhörte? Zu spät, um vergangene Fehler rückgänig zu machen, ist es allemal. Nicht zu spät ist es jedoch, den Mut zum Überdenken zu haben, was wir gemeinsam ändern könnten. Wenn sich nach den Europawahlen im Mai eine auf Xenophobie und Abgrenzung beruhende Achse über Europa ziehen sollte, hinsichtlich deren Wissensstandes zum Klimawandel der Geografieunterricht wohl ausgefallen sein muss, müssen wir uns nicht mit der wiedergeborenen Salonfähigkeit des Hasses arrangieren. Denn wo uns Hass in diesen bewegten Tagen nur hinführen kann, dafür stehen Sri Lanka, Christchurch und Lampedusa unmissverständlich in einer Linie.
Vielleicht sind wir Menschen aber auch ein hoffnungsloser Fall, blind für unseren eigenen Untergang, taub für die Warnungen unserer Umwelt und egoistisch genug, auch am letzten Tag auf Erden noch Profit daraus zu schlagen - nicht die besten Eigenschaften für eine Spezies, die rund 300.000 Jahre Zeit hatte, sich zu entwickeln und dennoch am Ende an sich selbst scheitern wird.