Alle Augen auf Sarajevo!
1984 erstrahlte Sarajevo als Austragungsort der XIV. Olympischen Winterspiele und präsentierte sich stolz als Epizentrum multikultureller Toleranz. 35 Jahre später, nach den Schrecken der 1990er Jahre, ist man erneut Gastgeber der Winter-Jugendolympiade - können die gemeinsamen Spiele helfen, das Trauma der Vergangenheit zu bewältigen?
Eigentlich ist es nicht schwer, die Spuren der Vergangenheit in Sarajevo zu finden. Noch heute prangen die olympischen Symbole an den bröckelnden Gebäuden der Innenstadt, sind die fünf olympischen Ringe auf den Verkehrsinseln der Hauptstraßen zu finden. Auch 35 Jahre nachdem sich Sarajevo als Austragungsort der Olympischen Winterspiele 1984 der Welt als Schmelztiegel der Kulturen präsentierte, windet sich die alte Bobbahn an den steilen Hängen des Trebević, stehen die zugewachsenen Schanzen als stumme Zeugen auf dem Igman-Berg. Fast scheint es so, als ob die Zeit an jenen Orten stehen geblieben sei; der Mythos und die Euphorie des Olympischen Jahres umgeben noch immer die dem Verfall preisgegebenen Schauplätze. Dass mit den Winterspielen 1984 die letzten Bobfahrer den Trebević herab rauschten; dass die verrosteten Tribünen irgendwo in den bewaldeten Bergen um Sarajevo seit fast vier Jahrzehnten ohne Zuschauer blieben, kann überraschen - wenn man die abscheulichen Gräueltaten vergisst, die nur wenige Jahre nach Ende des olympischen Festes über die bosnische Hauptstadt hereinbrachen. So sind all die Überreste der Winterspiele genauso Erinnerung an die großartigen Momente wie Beweise für den übersteigerten Nationalismus auf dem Balkan der 90er Jahre.
Und tatsächlich sind die Erinnerungen an die Wintertage 1984 noch immer in den Köpfen vieler Einwohner Sarajevos lebendig. Nicht selten werden die Winterspiele in Gesprächen als die am durchorganisiertesten ihrer Art beschrieben; "Vučko", das wolfsähnliche Maskottchen, findet sich auch heute noch in den Graffitis der von Einschüssen zersiebten Häuserwänden wieder und kann in den Läden der muslimischen Altstadt als Souvenir erworben werden. Warum die Sportstätten trotz der offensichtlichen Sehnsucht vergangener Tage nicht wieder errichtet werden? So richtig beantworten kann mir diese Frage niemand; mal fehlt es an Geld, dann wiederum an Interesse seitens der Politik. Was bleibt sind die Skelette aus Stahl und Beton, die vielmehr erzählen, als nur die Medaillenspiegel und die Namen der erfolgreichen Teilnehmer.
Betrachtet man das Sarajevo der 1984er Jahre, so schien - wenn auch nur oberflächlich - das friedliche Zusammenleben im jugoslawischen Vielvölkerstaat noch gesichert. Wer hätte denn nur 8 Jahre später auch solch eine tragische Wendung für möglich gehalten, durch welche die Skigebiete auf den umliegenden Bergen Sarajevos vermint und die Bobbahn als Rückzugsort der bosnisch-serbischen Artillerie genutzt werden würde?
Während der Belagerung Sarajevos (1992-1996) gingen im Durchschnitt 328 Granaten täglich auf die Stadt nieder.
Es brauchte nur 1425 Tage, um über 10.000 Zivilisten, darunter 1600 Kinder, zu töten und Sarajevo in ein unumkehrbares Trauma zu stürzen, unter dem die Stadt bis heute leidet.
Die letzten 35 Jahre haben der Stadt ein neues Gesicht gegeben, ihr Image düsterer werden lassen und teils unüberwindbare zwischenmenschliche Gräben hinterlassen. Die Freude über die einmalige Möglichkeit, als erstes sozialistisches Land Mittelpunkt einer derart international beachteten Sportveranstaltung gewesen zu sein, wich zunehmend während die Gefechte immer fester ihre Klauen um die Zivilbevölkerung Sarajevos schlangen. 1425 Tage, also fast 4 Jahre, brauchte es nur, um Sarajevo in ein unumkehrbares Trauma zu stürzen, unter dem die stolze Stadt an den Ufern der Miljacka bis heute leidet. Die Belagerung zwischen 1992 und 1996 sowie der Beschuss durch bosnisch-serbische Truppen von den umliegenden Bergen aus ist die unheilbare Depression; zahlreiche Friedhöfe überziehen die stadtnahen Berghänge, fast ganz so als würden sie mahnend ins Tal hinab blicken und dafür sorgen, dass die über 10.000 getöteten Zivilisten niemals in Vergessenheit geraten.
Versöhnung dank des 'European Youth Olympic Festival'?
35 Jahre nach den offiziellen Winterspielen wurde Sarajevo abermals auserkoren, um die diesjährigen Winterspiele für Jugendliche im Alter zwischen 14 und 18 Jahren auszutragen. Hört und sieht man sich in den Straßen Sarajevos um, ist es fast unmöglich, eine der vielen Werbetafeln zu übersehen, die großflächig für ein Fest der Versöhnung und Einheit werben. Nicht wenige sehen auch in jenen kalten Februartagen die willkommene Chance, durch ein offenes Zusammentreffen der annähernd 1000 jungen Athleten aus 46 Ländern das weit verbreitete, eindimensionale Bild des vom Krieg gezeichneten Sarajevos zu aktualisieren. Längst sind die Schäden am altehrwürdigen Asim-Ferhatović Hase Stadion beseitigt, die die zahlreichen Granateneinschläge hinterlassen hatten; wo während der stimmungsvollen Auftaktzeremonie die Spiele mit Tänzen, Feuerwerken und Choreographien eröffnet wurden, befanden sich vor gerade einmal 25 Jahren noch die Quartiere der US-amerikanischen und britischen Truppen.
Trotz all der Reparaturen und wieder errichteten Gebäuden kann die erneute Euphorie um die Winterspiele nicht über die Narben des Krieges hinwegtäuschen. Sarajevo ist seit dem Ende des Krieges und dem abschließenden Dayton-Abkommen von 1995 eine de facto geteilte Stadt, Einheit und Zusammengehörigkeit versuchen nur noch vergeblich die Schautafeln in den Fußgängerbereichen zu demonstrieren. Zwar sind die Sportstätten gleichmäßig verteilt auf Sarajevo und den serbischen Ostteil der Stadt - auch wurden die Eröffnungsfeierlichkeiten in Sarajevo selbst und die Abschlussfeier in Ost-Sarajevo abgehalten - dennoch steht die quer durch Sarajevo verlaufende Grenze zwischen der bosniakisch-kroatischen Föderation und dem serbischen Landesteil wie eine unsichtbare Mauer zwischen den Menschen. Offensichtlich wurde diese paradoxe Situation während der Eröffnung, als politische Vertreter aus Ost-Sarajevo sowie die Rede des bosnisch-serbischen Präsidenten Milorad Dodik mit lautstarken Pfeifen beantwortet wurden.
"Sarajevo ist eine de facto geteilte Stadt, vergeblich versuchen nur noch die Schautafeln in den Fußgängerbereichen die Einheit und Zusammengehörigkeit zu demonstrieren"
Es war Ivo Andrić, der heute noch als Volksheld verehrte jugoslawische Literaturnobelpreisträger, der einst Jahre vor Ausbruch des abscheulichen Krieges Sarajevo als Stadt der zwei Gesichter bezeichnete: "Eines ist dunkel und streng, das andere hell und anmutig". Tatsächlich erstrahlen die schneebedeckten Gipfel der umliegenden Berge an klaren Tagen über den Dächern von Sarajevo, weht der Geruch von frischem Kaffee durch die Gassen der Altstadt und winden sich die Einwohner entlang der überfüllten Hauptstraßen im Zentrum an Cafés und Restaurants vorbei. Sarajevo könnte auf den ersten Blick wie eine normale europäische Hauptstadt wirken, würden nicht die mit Blumen umgebenen Denkmäler und Einschusslöcher in den Häuserfassaden die Vergangenheit aufleben lassen. Ändern wird sich an den gegenwärtigen politischen und wirtschaftlichen Begebenheiten nichts durch die Austragung der Winterspiele, aber, und das ist schon für sich ein Fortschritt, findet Sarajevo wieder Erwähnung als Stadt des Aufbruchs, nicht nur als die des Krieges und der Zerstörung. Bilder lachender Athleten, Kinder, die mit dem diesjährigen Maskottchen tanzen, die wehenden Flaggen aus allen Teilen des Kontinents beweisen es - gerade in diesen Tagen sollten wir alle unseren Blick auf eine Stadt werfen, die sich neu erfindet und der europäischen Jugend öffnet - trotz den Gespenstern der Vergangenheit.
http://www.eyof.org/2019-winter-sarajevo/
https://www.24sata.hr/sport/sarajevo-1984-godine-vucko-jurek-burek-i-prva-coca-cola-559862
http://www.spiegel.de/einestages/olympia-1984-ruinen-der-spiele-in-sarajewo-a-953273.html
https://www.welt.de/vermischtes/article121333557/Die-lebensgefaehrlichen-Reste-von-Olympia-1984.html
https://www.zeit.de/sport/2013-10/fs-sarajevo-winterspiele-1984-2
https://www.vn.at/sport/2019/02/12/eine-stadt-und-ihrezwei-gesichter.vn