20 Stunden Kairo
900 Kilometer, 20 Stunden, viele Fragen. TONIC-Chefredakteurin Juliane ist trotz der angespannten Lage auf einer Reise durch den Nahen Osten. Kurz vor dem Sturz Mohammed Mursis zieht es sie nach Kairo. Dort will sie mit jungen Menschen über die politische Situation sprechen. Welche Träume und Wünsche haben junge Ägypter? Oder überwiegt die Verbitterung? Wie soll es mit ihrem Land weiter gehen?
Ich liege zusammengekrümmt auf der Rückbank eines Busses. Es ist furchtbar warm und laut, Mücken zerstechen mein Gesicht, neben mir ein Rucksack, mit allem, was ich auf meiner Reise brauche. Ich versuche zu erspähen, wo wir sind. "Kopf runter!" zischt es von vorne. Vor acht Stunden habe ich die Grenze von Israel nach Ägypten überschritten, einige Papiere ausgefüllt und noch eine SMS an meine Freundin gesendet: "Habe heute Nachmittag beschlossen, nach Kairo zu fahren. Bin in ein paar Tagen wieder da!"
Es gibt zwei Routen, um von Taba im Osten Ägyptens nach Kairo zu kommen. Wegen der Angst vor Angriffen aus Gaza fahren die Busfahrer keine internationalen Passagiere mehr über die direkten, sieben Stunden lange Wege quer über die Sinai-Halbinsel. Der offizielle Weg führt an der Küste entlang, 15 Stunden und nur bei Tageslicht. Ich hatte keine Lust, die nächsten sechs Stunden am Straßenrand zu sitzen und auf den Sonnenaufgang zu warten. Also diskutierte ich so lange, bis man mir einen Platz auf der Rückbank dieses Kleintransporters angeboten hat. Hier liege ich nun, damit die Polizei mich unterwegs nicht entdeckt. Es rumpelt, der Bus schlingert durch den Sand, mein Kopf stößt ständig an die Seitenwand. Wir fahren im Konvoi und halten häufig an, um auf die anderen Autos unserer Gruppe zu warten. Es sei zu gefährlich, alleine zu fahren.
Mitten in der Wüste: Es geht nicht weiter.
Irgendwann bleiben wir stehen. Die Straße ist wegen Demonstrationen gesperrt. "Scheiß Studenten!", schimpft Aron, mit dem ich gerade meinen letzten Müsliriegel geteilt habe. Nicht alle unterstützen die Proteste: Aron findet, die Demonstranten seien schuld daran, dass das Leben in Ägypten grade so gefährlich ist. "Bevor sie das Regierungsgebäude abgebrannt haben, war alles noch gut. Sie haben alles kaputt gemacht." Im Bus entsteht eine hitzige Diskussion über eine neue Regierung, die Proteste und die hohe Arbeitslosigkeit.
Es ist fünf Uhr morgens, wir stehen mitten in der Wüste irgendwo zwischen Taba und Kairo auf einem Weg, der sich auf kaum einer Karte findet. Wir können weder vor noch zurück und ich beginne, an meinen Reiseplänen zu zweifeln. Ich möchte mich ein paar Tage in Kairo treiben lassen und Menschen in meinem Alter kennenlernen. Durch die Berichte in den Medien kann ich mir kein Bild von der Lebenswelt junger Leute machen – was beschäftigt sie, was sind ihre Wünsche und Hoffnungen, wie sehen sie die aktuelle politische Situation?
Ich versuche einzuschlafen, bis mir jemand eine kratzige Decke über den Kopf legt. Die Tür wird geöffnet, eine tiefe Stimme brüllt etwas auf Arabisch, das ich nicht verstehe, die Tür knallt zu und wir fahren weiter. Aron zieht mir die Decke vom Gesicht. "Polizei", sagt er und bedeutet mir, liegen zu bleiben. Ich denke "Rückenschmerzen, Rückenschmerzen, Rückenschmerzen" und wäre gerne einen Kopf kleiner.
"Die Angst ist immer da."
Um elf Uhr morgens erreichen wir Kairo, nach 14 Stunden, meinen Körper fühle ich nicht mehr. Ich setze mir den Rucksack auf und mache mich auf den Weg zum Markt. Ein Markt ist immer ein guter Ausgangspunkt, um eine Stadt kennenzulernen. Bei dem Versuch, ein Mittagessen zu bekommen, lerne ich Moswen kennen, der mir dabei hilft, mein Anliegen zu vermitteln: Ich möchte Ful, ein Gericht aus dicken Bohnen.
Moswen ist eigentlich Reiseführer, im Moment aber arbeitslos. Wegen der Unruhen kommen kaum noch Touristen nach Kairo. Im Tausch gegen mein Taschenmesser führt er mich die nächsten Stunden durch die Stadt und organisiert mir einen Schlafplatz.
Ich möchte unbedingt zum Tahrir-Platz, wohin mich Moswen aber nicht begleitet. Er findet es zu gefährlich. Diese Angst, dass etwas passieren könnte, sei immer da. Jeden Tag gäbe es unangekündigte Straßensperren, Kämpfe, bei denen niemand sagen kann, um was es genau geht und welche Parteien tatsächlich beteiligt sind, überall stehen uniformierte Sicherheitskräfte. Er ginge abends nach neun Uhr nicht mehr aus dem Haus, seine Freunde machten es genauso, sagt Moswen. Vor der Revolution sei das besser gewesen: "Klar, es gab Probleme. Aber nicht für mich, ich hatte da noch einen Job und keine Angst, nachts ausgeraubt zu werden."
Auf dem Weg zum Tahrir-Platz laufe ich am Ägyptischen Museum vorbei, wohin es einige Touristen verschlagen hat. Altägyptische Kunst macht weniger Angst als das junge Ägypten. Der Platz selbst ist kleiner als ich ihn mir vorgestellt habe, sah man in den Berichterstattungen doch immer riesige Menschenmengen, die hier zusammenkamen. Direkt daneben steht das abgebrannte Zentralgebäude der 2011 durch das Oberste Verwaltungsgericht Ägyptens aufgelösten Nationaldemokratischen Partei.
Seit dem Brand gibt es wage Pläne des Gouverneurs Abdel Azim Wazir, dort einen Garten anzulegen, der an die Opfer der Revolution erinnern soll. Junge Aktivisten möchten das schwarz-verrauchte Gebäude als Warnsignal so lassen, wie es jetzt ist. Bisher ist nichts geschehen und die Zukunft ist, wie in so vielen anderen Teilen der Stadt und des Landes, ungewiss.
"Es ist genauso wie vorher."
Am Abend lerne ich Moswens Freunde kennen. Wir sitzen in einem Café, essen Humus und reden über Politik. "Es hört nicht mehr auf, alle reden immer über Politik und niemand macht was. Es gibt keinen Plan für das, was jetzt passieren soll!", meint Shani, eine junge Studentin, die sich 2011 aktiv an den Protesten beteiligt hat. Für Frauen sei es im Moment fast unmöglich, sich normal durch den Alltag zu bewegen, sie verlasse das Haus fast nur noch in der Begleitung ihres Mannes. "Was wir wollen, ist Normalität und Sicherheit." Auch die anderen fallen jetzt ein. "Eure Medien tun so, als hätte sich Ägypten von einem Tyrannen befreit, dabei ist es jetzt genauso wie vorher – und es haben überhaupt nicht alle demonstriert!", regt sich einer von Moswens Freunden auf. "Im Grunde sind diese ganzen Politiker doch alle gleich: Sie wollen Macht und scheren sich kein bisschen darum, was wir brauchen!" Um kurz nach neun löst sich die Gruppe auf, die meisten gehen nachhause. Auf den Straßen sehe ich jetzt fast nur noch Männer. Ich freue mich auf eine Couch, auf der ich meine Beine ausstrecken und die Eindrücke des Tages verarbeiten kann.
Mir gehen viele Aussagen durch den Kopf, die ich heute in Bezug auf die Ereignisse des letzten Jahres gehört habe. Bisher habe ich Revolutionskritikern immer vorgeworfen, regierungskonform die Zustände einfach hinzunehmen und sich zu wenig für die zu interessieren, die unter dem alten System gelitten haben. Für mich hing die Legitimität einer Regierung unmittelbar mit Sicherheit und Lebensqualität zusammen. Seit heute verstehe ich ein wenig besser, welche Alltagsprobleme gewissermaßen Nebeneffekte der Proteste sind. Die verschiedenen Positionen der Mursi-Gegner und -Anhänger werden in den westlichen Medien sehr vereinfacht dargestellt, die von Menschen ohne eindeutige oder extreme Haltung meist gar nicht. Mir scheinen die Forderungen der jungen Menschen, die ich kennen gelernt habe wie ein undurchdringliches Netz aus der Angst vor Instabilität, dem eigenen Wunsch nach guten Zukunftschancen, und Gefühlen der Enttäuschung und Verbitterung für die neue Regierung. So viele Forderungen der Jugend werden nicht gehört und ihr Leben scheint sich seit den Protesten nicht verbessert zu haben. Welche Meinung hätte ich, wenn ich eine junge Ägypterin wäre? Kann ich das überhaupt wissen?
Weg hier, ganz schnell!
Es ist noch dunkel, als ich von meinen Gastgebern unsanft geweckt werde, ich müsse sofort mitkommen und in einen Bus zurück nach Taba steigen: Heute Nacht seien Touristen in Sinai entführt worden. Moswen habe angerufen, er habe Verbindungen zur Polizei und wisse Bescheid. Ich müsse jetzt gehen, später am Tag würde mich kein Busfahrer mehr mitnehmen, aus Angst vor Überfällen. Und wer könnte schon einschätzen, was die nächsten Tage noch bringen würden! Ich bin zu müde zum Diskutieren, stopfe meine dreckigen T-Shirts in meinen Rucksack, wickle mir einen Schal um den Hals und verbrenne mir den Mund an einem Tee, der mir eilig in die Hand gedrückt wird.
Dann stehe ich auf der Straße, in 30 Minuten fährt der Bus, ich versuche verzweifelt, die arabischen Straßennamen auf meinem Stadtplan wieder zu finden. Am Ende nehme ich doch ein Taxi, obwohl mir gesagt wurde, dass man als Frau vor allem nachts niemals alleine Taxi fahren sollte. Am Busbahnhof stehen eine Menge Leute, ich frage mich zu dem richtigen Bus durch und darf nach einer kurzen Diskussion und dem Versprechen, die nächsten Stunden in Liegeposition auf der Rückbank zu verbringen und bei Polizeikontrollen auf keinen Fall den Kopf zu heben, einsteigen. Der Fahrer startet den Bus durch einen Kurzschluss, irgendwo scheppert Blech und mit viel Lärm und dem Gefühl in einem Boxauto zu sitzen, verlasse ich Kairo.
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