„Leben heißt handeln“ (Albert Camus 1913-1960).
Wie ich meine Heimat zurückließ und eine neue in der Welt fand...
Wer bin ich und zu wem haben mich die letzten Jahre gemacht? Wer bin ich geworden, seitdem ich von der Schulbank aufgestanden bin und den Weg über Ländergrenzen hinweg auf mich genommen habe?
Im Jahre 2013 stieg ich das erste Mal in den Flieger und lies meine Eltern in der kleinen, deutschen Provinz zurück, die ich bis dahin als meine Heimat bezeichnete. Ich – ihr ganzer Stolz. Kaum 160cm, Lockenpracht, Sommersprossen.
Als ich wieder Boden unter den Füßen spürte war ich in Ungarn. Im Osten also, so wie es mir die Gesellschaft vorgaukelte. Die Ost- und Westgrenzen Europas eindeutig und unverkennbar in den deutschen Köpfen gezeichnet. Was erwartete mich? Die Antwort liegt auf der Hand. Menschen wie du und ich.
Ich badete mich in der Quelle des Abenteuers, sonnte mich auf der Wiese der Entfaltung, fand mich selbst und konnte ich sein. Auf Reisen und im Kontakt mit Einheimischen realisierte ich, dass Grenzen verschwimmen. Ich lernte tiefe Dankbarkeit kennen, begann die kleinen Dinge im Leben zu schätzen. Stopp. Nicht nur Dinge! Es waren und sind die wertvollen Momente, die mit keinem Geld der Welt, nicht in Euro, nicht in Forint, nicht in Dollar, zu bezahlen sind. Ich knüpfte Bänder in alle Himmelsrichtungen und baute Brücken. Brücken, die ich bis heute überquere um wahre Freundschaften auszuleben.
In der Lichtung der Herausforderungen standen wir zusammen. Es war ein Kampf gegen das Regime und der Einsatz für die Menschen, mit denen wir arbeiteten. Denn meine Zeit in Ungarn lehrte mir auch, was es bedeutet am Rand einer Gesellschaft zu leben. Während meiner Tätigkeit betreute ich Kinder und Jugendliche, die auf Grund ihrer Wurzeln Ausgrenzung erfuhren, gar als minderwertig eingestuft wurden. Ihre Entfaltungsmöglichkeiten eingeschränkt durch politische Umbrüche und ein gesellschaftliches Klima, in dem in dutzenden Köpfen Antiziganismus, sowie Antisemitismus nicht wegzudenken ist. Abgrenzung, Vorurteile und Fremdenhass – für die Menschen, die ich zu lieben lernte, keine Fremdwörter.
Mein europäischer Freiwilligendienst in Ungarn endete. Körperlich die 160cm Grenze nicht überschritten, doch an der Klippe der Zukunft stand eine erwachsene junge Frau. Gestärkt durch unzählige Erfahrungen, Momente des Nachdenkens, Enttäuschungen, Hürden und Zeiten der Ungewissheit. Selbstbewusst konnte ich den Sumpf der Unsicherheit überwinden und in eine Zukunft starten, in der ich mir zum Ziel setzte, für andere Menschen zu kämpfen.
Ich verlies das Elternhaus endgültig, studierte Soziale Arbeit. „Elendsverwalter“. Ist das alles, was einer Gesellschaft dazu einfällt? Bekräftigt durch den europäischen Freiwilligendienst führte ich das Studium fort und bereue es bis heute nicht. Ich habe in drei Jahren Studium unzählige Lebensgeschichten gehört. Mein eigenes Lebenspuzzle fügt sich weiter und weiter.
Viele Teile des Puzzles zeigen die Farben anderer Länder, ferner Kontinente. Der Europäische Freiwilligendienste legte das Fundament meiner Begeisterung für andere Kulturen. In über 4000m Höhe, das Atmen schwer, lernte ich in Bolivien während meines praktischen Semesters noch einmal eine ganz andere Seite der Welt, außerhalb Europas kennen.
Die Vernetzung mit Studierenden aus aller Welt und Freiwilligen in Deutschland hilft mir auch in meinem Heimatland in andere Länder einzutauchen und Grenzen verschwimmen zu lassen. Besonders in Zeiten der „Festung Europa“, die ihre Grenzen durch Kontrollen abschottet, und angesichts der aktuellen nationalistischen Tendenzen, muss ein Zeichen gegen Hass und Nationalismus für eine tolerante und weltoffene Gesellschaft gesetzt werden!
Danke Europäischer Freiwilligendienst, dass ich Europa nicht nur als eine Idee, sondern als Raum erfahren habe. Danke, dass du mich aus einem Provinzmädchen zur Weltenbürgerin gemacht hast.
Die Weltkarte halte ich weiter in meiner Hand. Sie zeigt Länder. Doch die Grenzen verschwimmen. Ich wünschte sie könnten dies für jeden Menschen tun. Ich wünsche allen Menschen diese Freiheit. Freiheit als WeltbürgerInnen in die Welt hinauszutreten und ihren Platz in dieser frei zu wählen.
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