KolEUmne: "Jeder kennt das Gefühl, nur spricht niemand offen drüber" II
Was hat es mit den Begriffen FOMO / FOBM auf sich, und warum fehlt das Bewusstsein darüber, wie sie unsere Verhaltensweisen und Einstellungen steuern?
KolEUmne: „Jeder kennt das Gefühl, nur spricht niemand drüber“ II
Möglicherweise verraten euch die ein wenig befremdlich und vielleicht sogar bedrohlich wirkenden Abkürzungen FOMO oder FOBM bereits worauf ich an diesem Sonntag zu sprechen kommen möchte. Fallen die Begrifflichkeiten denke ich zumeist an die an ihr Smartphone gefesselten Touristenmassen, zwanghaft auf der Suche nach den absoluten Highlights ihres vermeintlichen Entspannungsurlaubes, den sie in Form unendlicher Fotos verewigen zu versuchen. Es sind die Schülergruppierungen im Bildungszentrum, die sich unmittelbar nach Ertönen des Schulgongs zur Pause, an ihren gewöhnlichen Plätzen zusammenfinden und gekonnt in gemeinsam verkapselter Kommunikation, ihre Zeit am Bildschirm verstreichen. Abgesehen von Autofahrern am Handy, den klassischen #foodporn-Fotos und Spiegelposen aus dem GYM, betrifft FOMO/FOBM ebenfalls mich und dich sowie die Menschen um uns herum.
FOMO – fear of missing out beschreibt das (zwanghafte) Angstgefühl etwas, sprich Momente/Ereignisse zu verpassen. Hinter dem neumodischen Begriff verbirgt sich in erster Linie das menschliche Grundbedürfnis sich einer Gruppe zugehörig zu fühlen, dass so alt ist wie die Menschheit selbst. Ein plakatives Beispiel wäre das gelegentlich kribbelnd opportunistische Verlangen, an einem sonnigen Samstagnachmittag, die Lernmaterialien zum Fenster hinauszuschmeißen, aufs Rad zu springen und kräftig in die Pedalen zu treten, um den einzigartigen Moment mit den Freunden am Baggerloch mitzuerleben. Prinzipiell also ein äußerst natürliches Gefühl, dass jedoch angesichts des weitläufigen Einzugs sozialer Medien in den Alltag der Menschen, weitaus mehr als eine Renaissance erlebt, dessen bedenkliche Auswirkungen und hohen Ablenkungspotentiale schwer wiegen können. Erstmalig untersuchte ein Team von angloamerikanischen Psychologen das Phänomen FOMO, wobei sie davon ausgingen, dass das Erleben des Angstgefühls etwas zu verpassen, auf die Unbefriedigung dreier psychologischer Grundbedürfnisse [Selbstwirksamkeit, Autonomie und Zugehörigkeitsgefühl] zurückzuführen sei. Wer demnach Unzufriedenheit im Bezug auf sein Sozialleben verspürt, leide tendenziell eher unter FOMO, nutze verstärkt Social Media um stets auf dem neusten Stand zu sein, in der Hoffnung das Angstgefühl überwinden zu können. An dieser Stelle schließt sich der Kreis und die Sogwirkung der self-fulfilling prophecy scheint komplett. Denn wer überdurchschnittlich viel Zeit für Social Media aufwendet, verbringt weniger Zeit im realen Leben und es entgehen Möglichkeiten sich als kompetent, selbstbestimmt und zugehörig zu erleben. Der Clou an dieser Dynamik ist, dass der intensive Gebrauch von Social Media die Unbefriedigung der psychologischen Grundbedürfnisse in der Regel triggert und damit zu intensiverer Nutzung führt. Weshalb dem so ist, wird im nachfolgenden Absatz an Hand von verschiedenen Auswirkungen begründet.
Vor allem unter Jugendlichen ist die Nutzung von Instagram, Snapchat und Co. unlängst zur obligatorischen Norm avanciert. Die Nutzung sozialer Medien, über das uns stets begleitende Smartphone ermöglicht nämlich erstmals die ständige Verfügbarkeit von Echtzeit-Statusupdates, die wiederum die Triebkraft des Phänomens der fear of missing out ist. Aus meiner Perspektive lädt vor allem die Story-Funktion von Instagram und Snapchat dazu ein, förmlich in die heilen Lebenswelten von Freunden und Bekannten einzutauchen, ohne zwingend in Kommunikation miteinander treten zu müssen. Dass der persönliche, reale Austausch über interaktive Gespräche zunehmend durch die virtuelle Informationsbeschaffung (Snapchat, Instagram & Co. ersetzt) ersetzt wird, wirkt sich vor allem auf die Freundschaftsbeziehungen der betroffenen Personen aus. Es finden deutlich seltener Gespräche über die Erfahrungen und Erlebnisse von Freunden statt, wodurch es an Kontextualisierung und Reflexion fehlt. Viele eher werden unsere Abenteuer mittlerweile in Form von Bildhighlights aus unserer Story passiv von Freunden und Bekannten miterlebt bzw. konsumiert. Man wird quasi zum Berichterstatter seiner Selbst und formt sein eigen angesonnenes Narrativ. Wenn also Freunde meine Fotos aus der Instagramstory kommentieren, sehen sie nicht wie anstrengend und intensiv die Wochenendtrips eigentlich sind, sie bestaunen lediglich für einen kleinen Moment die Momentaufnahme und das was sie einem suggeriert. Dass dabei die eigentliche Komplexität und der Realitätsbezug verloren geht, scheint offensichtlich.
In gewisser Weise handelt es sich bei FOMO/FOBM im Endeffekt teils um irrationale Ängste, aber vorsichtig, bitte immer mit dem Thomas-Theorem: „Wenn die Menschen Situationen als real definieren, sind die in ihren Konsequenzen real“, im Hinterkopf betrachten. Zu möglichen Symptomen der fear of missing out zählen das Erleben innerer Unruhe und Nervosität, dass sich über Schweißausbrüche, Zwangsstörungen, Konzentrationsprobleme und Herzrasen bemerkbar machen kann. Dabei werden die Anzeichen von FOMO durch einen übermäßigen Social Media Konsum, vor allem unmittelbar nach dem Aufwachen und vor dem Einschlafen, begünstigt.
Insbesondere die permanente Konfrontation mit geschönten Selbstdarstellungen anderer User, mit denen man über vergleichbare Selbstinszenierung zu konkurrieren versucht, kann das eigene Selbstwertgefühl in Mitleidenschaft ziehen. Wer sich selbst und seinen Lebensstil stets in Vergleich zu hunderten von Menschen auf Instagram und Co. setzt wird langfristig einem unerreichbaren Perfektionismus hinterherrennen, der einen innerlich aushöhlt und unglücklich macht.
Ein weiterer interessanter Aspekt ist der mögliche Konformitätsdruck denen Leidtragende, im Wettlauf um Anerkennung und Bestätigung auf Social Media ausgesetzt sind. Likes suggerieren in erster Linie ein eindeutiges Feedback, nämlich, dass dein content oder ‘du‘ mir gefällst. Wer sich jedoch naiv mit diesem eindimensionalen Zuspruch in Sicherheit wiegt, der wird sich unbewusst, den vom mainstream oder der peer-group geteilten Norm- und Wertevorstellungen unterordnend anpassen. Eine solch simulierte Selbstsicherheit trügt jedoch niemals über die fehlende Fähigkeit, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, um selbstbestimmt Meinungen und Wertansichten vertreten zu können, hinweg.
Nun, mag man sich fragen was das Ganze jetzt konkret mit dem Austauschprogramm Erasmus zu tun hat. Bisher bin ich bereits ausführlich auf das neumodische Phänomen FOMO eingegangen ohne die eingangs daneben erwähnte FOBM genauer zu beleuchten. Die FOBM – fear of being missed bildet den eigentlichen engen Zusammenhang zum Themenfeld der Youthreporter-Website und ist mit aller Wahrscheinlichkeit nach das Gefühl, mit dem sich die meisten Leser/innen identifizieren können. Uns eint der Auslandsaufenthalt, der einen vor kulturelle, soziale und sprachliche Herausforderungen stellt und über die Auseinandersetzung mit dem Fremden auch das Eigene hinterfragt. Wir verlassen temporär unsere gewohnt vertraute Lebensumgebung, samt Freunden und Familie, um aufs Abenteuer Ausland aufzubrechen. Auch wenn die Art und Weise wie Menschen mit dem Fremden und Unbekannten umgehen, stark von deren Eigenschaften, Fähigkeiten und Einstellungen abhängig ist, fiel aller Anfang wahrscheinlich jedem schwer. Es fehlen für gewöhnlich soziale Bezugssysteme, Orientierungssinn und notwendige sprachliche/kulturelle Fertigkeiten. Auf sich selbst gestellt findet man auf Anhieb und unter sozialen Hemmungen erstmal niemanden, mit dem man die alltägliche Begegnung mit dem Fremden und Andersartigen teilen kann. Gleichzeitig kehrt man während des anfänglichen Umgewöhnungsprozesses im Ausland zu bekannten und vertrauten Verhaltensweisen zurück. Beispielsweise ziehen wir uns abends, geschlaucht von der Impressionsflut an neuen Erfahrungen, in die neuen vier Wände zurück und versuchen, über die Nutzung von Social Media, die physische Abwesenheit zu Freunden und Familie über die virtuelle Anwesenheit, die psychisch eine Teilhabe suggeriert, wettzumachen. Beim Anblick der Storys von Freunden, wie sie gemeinsam am Lagerfeuer entspannt den Abend ausklingen lassen, an einem Festivalwochenende live beim Konzert deiner Lieblingsband dabei sind oder meinetwegen die fetteste Party ohne einen feiern, macht sich im Körper eine wahnsinnige innere Unruhe breit.
Der Realisierung der Tatsache, dass man für das nächste halbe Jahre nicht mit am Start sein wird, folgt für gewöhnlich erstmal die Angst von Freunden vergessen zu werden. Dennoch bildet es die Grundvoraussetzung dafür, sich der Situation bewusst zu werden und in der Akzeptanz der Umstände, der Entdeckung der unbekannten Lebenswelt anzunehmen.
FOMO – fear of missing out spielt symbioseartig mit FOBM – fear of being missed zusammen, denn dadurch, dass wir begriffen haben selbst physisch nicht vor Ort bei Freunden sein zu können, verspüren wir das verzweifelte Gefühl zumindest Lebenszeichen zu senden, damit unsere Freunde uns bloß nicht aus dem Blickfeld und damit aus der Storyleiste bei Instagram oder Snapchat verlieren. Im Prinzip geht es darum der realen Abwesenheit und Angst nicht Teil zu haben, mit dem intensiven Informationsangebot an Echtzeitupdates aus dem eigenem Leben zu entgegnen. Dabei stellt sich die essenzielle Frage, für wen machen wir die Fotos und Videos eigentlich? Geht vor dem Hintergrund von FOMO und FOBM, nicht der Blick fürs Wesentliche der andersartigen und unkonventionellen Erfahrungen und Erlebnisse während des Auslandsaufenthaltes verloren? Verkommen Events, Kunstwerke und Naturlandschaften nicht zu Inszenierungsmöglichkeiten des eigenen Selbst auf Social Media, in der Hoffnung Bestätigung und Anerkennung zu erhalten sowie Teil des Ganzen zu sein?
Eigentlich würde ich an dieser Stelle des Blogeintrags gerne einen Punkt setzen, aber FOMO/FOBM scheinen mir wirklich allgegenwärtige Phänomene unter Jugendlichen zu sein, dass ich im letzten Absatz gerne ein paar Präventivmaßnahmen zusammentragen möchte. Ein einfacher aber effektiver Ansatz ist sich, bevor man demnächst ein Foto vom leckeren Fruchteis oder was auch immer macht, zu fragen, für wenn und warum mache ich dieses Foto eigentlich? Deshalb macht euch in regelmäßigen Abständen euren Bedürfnisse und Interessen bewusst, was wollt ihr wofür eigentlich machen? Wer Sachen ausschließlich unternimmt um es allen anderen zu zeigen, wird abends nie innerlich ausgeglichen und zufrieden zu Bett gehen können. Die darunterliegende Struktur ist die des ständigen Vergleichens à la Postmoderne.
Vor allem im Genuss des riesen Privilegs freizügiger Mobilität, sollten wir uns stärker der uns umgebenden und vielleicht erschreckend faszinierenden Kulturwelt widmen. Erasmus steht für mich für Persönlichkeitsbildung, denn vor allem der Auslandaufenthalt bietet reichlich Gelegenheit sich als kompetent, selbstbestimmt und zugehörig zu erleben. Von daher tut es sehr gut sich ab und zu bewusst darauf zu besinnen, was man selbst momentan unternimmt und zur Verfügung stehen hat und dafür Dankbarkeit ausstrahlt.
In diesem Sinne, verstaut euer Smartphone tief in den Reiserucksack und Bon Voyage!
Schön veranschaulichender Artikel in der Zeit für eine etwas allgemeinere Sichtweise auf FOMO:
https://www.zeit.de/entdecken/2016-11/fomo-digital-detox-sucht
http://www.bbc.com/news/technology-39129228
Was ist wissenschaftlich unter FOMO zu verstehen?:
http://lexikon.stangl.eu/17010/fear-of-missing-out-fomo/
Präventivvorschläge:
https://schulesocialmedia.files.wordpress.com/2014/09/smartphone-etikette-wampfler.pdf
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