Zweimal Ukraine
Zweimal Ukraine: Odessa und Lwiw/Lemberg – zwei Städte, zwei Ansichten und zwei Welten?
Wie bereits geplant, wurde der Monat April ein Reisemonat. Zunächst verschlug es mich und meinen italienischen Mitbewohner Marco nach Odessa. Ein Zug täglich verlässt den Hauptbahnhof Chişinăus in Richtung der Hafenstadt am schwarzen Meer.
Auch die Bahn verspricht dabei eine interessante Reise. Ist die Fahrkarte erst einmal vom vor dem Wagoneingang wartenden Zugbegleiter eingerissen, gibt es kein Zurück mehr. Man lässt sich auf einen beliebigen Platz nieder und hofft, dass sich keine weitere Person auf dieselbe, sowieso schon schmale Sitzbank setzt. Nun gilt es das in Kyrillisch geschriebene Ticket zu lesen und sich an der eigenwilligen Schreibweise des eigenen Namen zu belustigen. Langsam, sehr langsam setzt sich der Zug in Bewegung. Noch hofft man, dass er mit der Zeit an Geschwindigkeit zulegen wird. Diese Hoffnung sollte man allerdings schnell aufgeben und sich lieber auf das Innenleben des Abteils konzentrieren: Sehr geräumig, große Fenster, eine Bar in der Ecke, Sitzbänke mit rotem Überzug und auf dem Boden in die Jahre gekommener Laminat. Es ist warm, stickig und am liebsten möchte man das Fenster aufreißen. Sollte man dies allerdings wirklich wagen, wird man sehr schnell von einem anderen Passagier mehr oder weniger freundlich darauf hingewiesen, dieses schleunigst wieder zu schließen. Nicht nur im Zug, sondern beinahe in allen geschlossenen Räumen wird Wärme Frischluft vorgezogen. Also lässt man sich wie die meisten anderen Reisenden auch in eine Art „Wachschlafzustand“ hineinschlummern und kommt erst wieder zu sich, wenn die aufkreischenden Bremsen des Zuges die Ankunft ankündigen.
Im Gegensatz zum Hauptbahnhof in Chişinău fällt dem Betrachter schnell ein entscheidender Unterschied auf: Er ist belebt.
Durch die langen Schlangen vor den Ticketkassen drängt man sich zum Ausgang und wir begeben uns auf eine der Straßen Richtung Innenstadt. Musste Marco auf den mehr als nur unebenen Fußgängerwegen Chişinăus seinen Rollkoffer noch tragen, kann er ihn hier ohne Probleme hinter sich herziehen. Diese Unterschiede einer verbesserten Infrastruktur sollten uns noch öfters auffallen. Schnell Geld gewechselt, unsere Betten im Hostel bezogen und schon zieht es uns in die Stadt. Der maritime Flair und auch die bedeutende Rolle als Handelsstadt im Laufe der Zeit zeigen sich an jeder Ecke.
In Odessa wird vornehmlich Russisch gesprochen, für uns praktisch, da unsere Ukrainisch-Kenntnisse gegen null gehen. Nach einem mehr als nur erfrischenden Bad im Schwarzen Meer, Treffen mit anderen Freiwilligen vor Ort und einer Swing-Tanz Unterrichtsstunde, werden von Einheimischen aktuelle Fragen über die Situation der Stadt in Folge des Krieges im Osten der Ukraine beantwortet. Zusammenfassend wurde mir auf die Frage, wie sich Odessa in der Ukraine orientiert, geantwortet: „Odessa ist weder ukrainisch noch russisch. Odessa ist Odessa.“ Das nehme ich so hin und weiß trotzdem, dass gerade in dieser Stadt spätestens seit den blutigen Ausschreitungen zwischen prorussischen und proeuropäischen Lagern im Mai 2014, eine angespannte Lage herrscht.
Eine neue Sichtweise auf diesen Konflikt werden wir bekommen, wenn wir uns auf den Weg in den Westen der Ukraine, nach Lwiw begeben. Denn bereits eine Woche später geht es für uns auf das für alle Freiwilligen obligatorische Mid-Term Training. In das gleiche Land zwar, aber doch irgendwie in eine andere Welt.
Dieses Mal nehmen wir, meine beiden Mitbewohner aus Spanien und Italien und eine weitere spanische Freiwillige, Platz in einem äußerst komfortablen Reisebus. Bei über 15 Stunden Nachtfahrt sehr angenehm. In unseren weit nach hinten gelehnten Sitzen geleitet uns eine russische TV-Serie á la „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“, die auf dem Bildschirm im Bus übertragen wird, ins Land der Träume.
Überraschend ausgeschlafen können wir am darauffolgenden Tag die wunderschöne Stadt besichtigen. Nicht ohne Grund wird Lemberg auch als Paris der Ukraine bezeichnet. Der alte Markt, zahlreiche Kirchen und das Stadtbild insgesamt sind ein Spiegel der Zeit unter polnischer und österreichischer Herrschaft. Diese westliche Prägung wird aber nicht nur optisch sichtbar. Hatte ich nach meinen Erfahrungen in Odessa noch erwartet mich auch hier ohne Probleme mit meinen kleinen Russischkenntnissen durchzuschlagen, wird mir schon beim Gang über einen Souvenirmarkt bewusst, dass ich hier dem Russischen die englische Sprache vorziehen sollte. Toilettenpapier mit Putinporträt oder Fußabstreife mit demselben Konterfei sind dabei die noch eher harmlosen Verkaufsobjekte. Spätestens abends beim Besuch eines Restaurants beschließe ich, mein Russisch-Wörterbuch ab sofort tief im Rucksack zu verstauen: Recht forsch werde ich von der Bedienung darauf hingewiesen, dass wir hier in der Ukraine sind und ein „Djakuju“ statt dem russischen „Spasibo“ angebracht wäre.
Auch wenn der Konflikt fern im Osten ausgefochten wird, sieht man zahlreiche Soldaten, die hier scheinbar ihren Urlaub verbringen dürfen, Spendenboxen für Kriegsinvaliden neben jeder Supermarktkasse und zahlreiche Poster, die zur Unterstützung der Soldaten an der Front aufrufen.
Ein mulmiges Gefühl überkommt mich. Auch wenn ich hier in Luftlinie weiter vom Krisengebiet um Donezk und Mariupol entfernt bin, ist der Krieg fühl- und sichtbar.
Schon am nächsten Morgen ziehen wir weiter Richtung Westen in die Ausläufer der Karpaten. Dort in einem kleinen Dorf, das im Winter zum beliebten Urlaubsziel für Skifahrer wird, wird unser Mid-Term Training abgehalten. Gemeinsam mit Freiwilligen aus unterschiedlichen europäischen Ländern, die in Weißrussland, der Ukraine oder eben in Moldawien Freiwilligendienst leisten, sprechen wir über kulturelle Vielfalt, Möglichkeiten der Projektverbesserung und evaluieren unsere Zeit. Bei einer Wanderung durch die Berge, einem gemeinsamen Saunaabend und beim Fußballspielen lernt man sich schnell kennen. Ein Wiedersehen ist schon geplant.
Nach vier interessanten Tagen treten wir den Rückweg über Lwiw an. Dort haben wir noch einmal zwei Tage Zeit die Stadt zu erkunden. Dieses Mal steht uns dabei eine „professionelle“ Reiseführerin zur Seite. Eine Freiwillige, die in Lemberg arbeitet, zeigt uns die besonders schönen Ecken der Stadt. Doch wie immer auf Reisen vergeht die Zeit wie im Flug und nach einer knappen Woche Ukraine sind wir wieder zurück in Chişinău. Die Zeit vergeht nur auf Reisen rasend schnell? Jein – denn wenn ich daran denke, dass ich jetzt schon neun Monate hier bin, kann ich das kaum glauben. Aber irgendwie bin ich ja auch hier nur als Reisender. Und dafür bin ich – das habe ich in meiner Zeit auf jeden Fall gelernt – in Gewisser Weise dankbar.