Die Weisheit der Pflastersteine
Eine unbestimmte Sehnsucht lenkt die Schritte voran auf den unbekannten Straßen unbekannter Länder, und plötzlich finden wir Heimat in bislang unbekannten Momenten. Doch je näher wir anschließend dem Bekannten wieder kommen, desto verstörender kann das Gefühl sein, wenn sich die Vertrautheit entzieht und uns stehen lässt auf einer unbekannten Straße mit dem Klang der vertrauten Sprache im Ohr, die uns auf einmal unbeschreiblich kalt erscheint...
Das nasse Kopfsteinflaster spiegelt die Lichter der Nacht wie in jeder anderen Stadt. Wer in der Nacht den Blick senkt, kann vergessen, wo er ist, und Europa wird mehr als ein Wort, es gewinnt an Gewicht, das dich manchmal angenehm mit dem Boden verbindet und dann wieder allzu schwer auf den Schultern liegt. Wer in der Nacht den Blick senkt, ist frei.
Der Tag ist anders. Der Nomade denkt an die vergoldeten Dächer in Budapest, die von der Morgensonne errötet werden. Keine andere Stadt erwacht schöner, poetischer, mit einem Versprechen auf den rosigen Lippen, die schon in der Mittagssonne verdörrt sein werden. Doch die Magie des Morgens bleibt.
Der Mittag ist eine spanische Küstenstadt. Eine Ruhe, als hätte der Wind sie aus der Sahara herübergeweht, liegt über ihr, dämpft das Rauschen des Meeres und beschwichtigt die Schritte der Menschen. Die leeren Straßen, die geschlossenen Ladentüren und Fensterläden lächeln nachsichtig, die Ruhe ist keine bedrohliche Stille und die Leere ist keine Einsamkeit.
Der frühe Abend sind die Schritte auf dem Großen Platz in Sibiu, die großen und die kleinen Schritte, die hastigen und die zaghaften, die Stimmen in lautem Stakkato und behutsamen Melodien, das derbe Lachen und das kurze Weinen eines Kindes, das sich auf den alten Steinen die Knie aufschlug. Ein Publikum versammelt sich um die Geigerin, die schon einige Stunden vor einem fast münzenleeren Hut spielt, der sich nun binnen Minuten füllt. Das Ende des Tages schmeckt süß, und sein Duft zieht über den Platz und fordert ein Lächeln im Abendrot.
Die Stimmungen des Tages sind ein Kartenspiel mit besonderen Regeln. In der Nacht aber hütet die Sonne diese Regeln auf der anderen Seite der Welt, und es liegt beim einsamen Wanderer, sich in den Wellen der langsam schwindenden Stunden ein Floß zu erschaffen, wenn er der Unberechenbarkeit der Strömungen nicht traut.
Das nasse Kopfsteinpflaster spiegelt die Lichter und Farben, Musik und Lachen dringt an die Ohren, das Bellen eines Hundes schallt aus der Ferne über die Dächer. Die Schritte zählen die ordinären Lichtflecken der Straßenlaternen auf dem Weg.
In all der Zeit des Nomadentums war er stets ein Fremder gewesen. Die Laute, die aus den Kehlen der Menschen an seine Ohren gedrungen waren, bildeten Melodien, wie die verschiedenen Instrumente eines Orchesters: Wohl konnte er ihnen häufig die Stimmung des Senders entnehmen, doch wurde er niemals zum Empfänger der Nachricht, die darin verborgen lag. Und doch waren der Budapester Morgen, der Andalusische Mittag und der Rumänische Abend seine treuen Begleiter und Heimat geworden, wie er sie nie zuvor gekannt hatte.
Der heutige Morgen war ein Budapester Morgen gewesen. Die rotgoldenen Dächer spiegelten sich in den Fenstern des Auberginenfarbenen Busses, der ihn nach Westen führte. Doch der Mittag, den er nach 250 Kilometern erreichte, war kein Südspanischer Mittag, auch kein anderer, den er jemals gekannt hatte. Der Nachmittag schwoll an und verblasste, doch der herannahende Abend barg keinerlei Gemeinsamkeit mit der Unbeschwertheit Transsilvaniens. War denn nicht diese Stadt eine besondere? Waren nicht Klima und Sprache vertraut wie in keiner anderen auf dieser Reise?
Eine Kälte lag über den Straßen, die mit dem schneidenden Wind auch unter den wärmsten Wintermantel drang. Der Morgen in dieser Stadt war ein kalter Morgen, unmerklich abgelöst von einem kalten Mittag, dessen Fluß mit dem abnehmenden Licht im kalten See des Abends seinen Stillstand fand. Die Laute auf den Straßen waren nicht länger fremd, und doch fehlte ihnen jede Melodie um ihn zu trösten. Die Kälte drang in seine Kehle und ließ ihn verstummen.
So ließ er die Tage vorrüberfließen und hüllte sich in die Nacht, in der er den Blick gesenkt halten und die Kälte ertragen konnte. Die glänzenden Spiegelungen der Steine unter seinen Füßen boten ihm Halt und Vertrautheit. Die Lokale lagen so dicht beeinander, dass Musik und Stimmen zu einem Orchester verschmolzen, dessen Klang ihn von der Fremdheit der vertrauten Sprache erlösten.
Wer in der Nacht den Blick senkt, ist frei. Frei wovon? Frei wozu? Der Budapester Morgen ist Hoffnung, der Spanische Mittag Ruhe, der Transsilvanische Abend Leichtfüßigkeit. Die Wiener Nacht jedoch, die nur nachlässig die stolze Pracht verhüllt, die in der Sonne erstrahlt, bot ihm nichts als die Erlösung von einem weiteren Wiener Tag.
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